Die Sufis verstehen 

Wer die islamische Mystik verstehen will, muss zunächst mit einer Reihe von Missverständnissen aufräumen, wie Marian Brehmer in seinem Essay schreibt.
Wer die islamische Mystik verstehen will, muss zunächst mit einer Reihe von Missverständnissen aufräumen, wie Marian Brehmer in seinem Essay schreibt.

Wer die islamische Mystik verstehen will, muss zunächst mit einer Reihe von Missverständnissen aufräumen, wie Marian Brehmer in seinem Essay schreibt.

Von Marian Brehmer

Einst fragte ein Schüler seinen Sufi-Meister, wer eigentlich ein Sufi sei. Darauf habe dieser geantwortet: “Ein Sufi fragt nicht, wer ein Sufi ist.” Nie war es einfach, den Sufismus zu definieren. Einigkeit darüber, wer die Sufis eigentlich sind, scheint auch unter Experten nicht zu bestehen: Sind die Sufis eine Glaubensgruppe innerhalb des Islam? Oder sind sie als getrennt von den  Muslimen zu sehen? Praktizieren die Sufis den Islam in seinem spirituellen Kern oder haben sie sich vom Regelwerk der Religion abgewandt? 

Wer tiefer in diese Fragen eindringt und sich mit Strömungen des Sufismus zwischen Marokko und Malaysia beschäftigt, wird bald feststellen: Schon die Kategorisierung des tasawwuf in einen -ismus ist irreführend, denn er suggeriert die Zugehörigkeit zu einem mehr oder weniger starren ideologischen System — siehe Begriffe wie Marxismus oder Sozialismus — mit klar definierten Doktrinen und Überzeugungen.

Mit dieser begrifflichen Verfehlung ist der Sufismus nicht allein. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch die diversen spirituellen Traditionen Indiens, die mit dem Begriff “Hinduismus” zu einer monolithischen Religion erklärt wurden, die so nicht existiert.  

Tatsächlich taucht das Wort “Sufismus” zuerst in den Schriften westlicher Orientalisten auf, die sich aufmachten, nicht-christliche Religionen zu erforschen. Im Schatten dieses Forschergeists stand das imperialistische Projekt Europas und damit die Frage: Können wir die Völker, die wir erobert haben, besser beherrschen, indem wir ihre Schwächen ausnutzen?

Sufi-Männer; Foto: Marian Brehmer
Was ist Sufismus? “Der Sufismus ist die Tiefenarchäologie der islamischen Religion”, meint der türkische Islamwissenschaftler und Sufi-Forscher Mahmud Erol Kılıç.  Es ist das Bestreben der Sufis, den Kern der islamischen Tradition zu begreifen, zu verinnerlichen und aktiv zu leben. Dafür bedienen sich die Mystiker der Walnuss-Metapher: Die äußeren rituellen Formen und Gebote der Religion sind wie eine Schale, die das Innere der Nuss beschützen, doch ihr Dasein schöpft die Schale aus der Existenz des Nusskerns. Mit anderen Worten: Wer nur der Schale anhaftet und nicht zum inneren Kern vordringt, verfehlt das Ziel.



Besonders dort, wo sich die Kolonialmächte mit Widerstandsbewegungen sufischer Prägung konfrontiert sahen, war ein besseres Verständnis des Feindes gefragt — etwa im Fall des algerischen Sufi-Meisters und Freiheitskämpfers Emir Abdelkader im Widerstand gegen die Franzosen oder beim Mahdi-Aufstand gegen die britisch-ägyptische Herrschaft im Sudan im späten 19. Jahrhundert.



Zugleich brachten europäische Reisende zur Kolonialzeit exotische Berichte über Sufi-Gruppen mit, die sie an den Grenzen Europas beobachtet hatten. Bilder von den seltsam heulenden Ri’fai-Sufis Anatoliens oder den tanzenden Derwischen im Istanbuler Galata Mevlevihanesi beflügelten bald die orientalischen Fantasien des europäischen Publikums.  

Sufismus ist die Tiefenarchäologie des Islam” 

Doch wie lässt sich der Sufismus jenseits all dieser Projektionen von innen heraus verstehen? “Der Sufismus ist die Tiefenarchäologie der islamischen Religion”, meint der türkische Islamwissenschaftler und Sufi-Forscher Mahmud Erol Kılıç.  

Es ist das Bestreben der Sufis, den Kern der islamischen Tradition zu begreifen, zu verinnerlichen und aktiv zu leben. Dafür bedienen sich die Mystiker der Walnuss-Metapher: Die äußeren rituellen Formen und Gebote der Religion sind wie eine Schale, die das Innere der Nuss beschützen, doch ihr Dasein schöpft die Schale aus der Existenz des Nusskerns. Mit anderen Worten: Wer nur der Schale anhaftet und nicht zum inneren Kern vordringt, verfehlt das Ziel.

Die Sufis priorisieren also das Innere, ohne das Äußere zu vernachlässigen. Alle Sufi-Praktiken sollen letztlich dem Ziel dienen, Gott im Inneren näher zu kommen. Schließlich heißt es in einem berühmten Hadith (Überlieferung der Sprüche und Handlungen des Propheten Mohammed): “Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.” 

Für Sufis liegen die geistigen Wurzeln ihrer Tradition beim Propheten Mohammed selbst. Dieser war, so könnte man sagen, in seiner Rolle als spiritueller Führer der erste Sufi. Nur, dass es damals noch nicht notwendig war, der inneren Tradition des Islam einen eigenen Namen zu geben, war sie doch das Einzige, was existierte. Die sahaba, nicht unähnlich den Urchristen um Jesus, formten demnach die erste islamische Gemeinschaft, eine Art prototypischer Sufi-Orden. 

Ein Bild von Rumi an einem markt; Foto: Marian Brehmer
Ein Bild des persischen Dichters Dschalaluddin Rumi an einem Markt: Rumi gehört in den USA zwar seit Jahren zu den am meisten gelesenen Dichtern. Seine Wurzeln als islamischer Theologe und Prediger kennt jedoch kaum jemand. Um Rumis Verse einem sinnhungrigen New-Age-Publikum schmackhaft zu machen, wurde sämtliche islamische Symbolik aus seinen Gedichten getilgt. Dabei enthält Rumis Hauptwerk, das Masnavi, Tausende von direkten Zitaten aus dem Koran. Das Problem ist auch hier, dass wir so dem Islam absprechen, jemanden wie Rumi hervorgebracht haben zu können. Der Islam wird im Westen reduziert auf ein jahrelang reproduziertes Zerrbild, was ihn angeblich ausmache. 



Nach dem Tod Mohammeds führten Verwässerung, Missbrauch, Machtspiele und Schismen — wie sie sich mit der Zeit in allen Religionen und spirituellen Bewegungen ereignen — zu einer Entfernung von der spirituellen Botschaft und Praxis des Islam. Denjenigen, die sich der inneren Dimension des Islam zuwenden wollten, wurde mit der Zeit, um sie von anderen Bewegungen abzugrenzen, der Name “Sufi” verliehen. Das Wort “Sufi” stammt vom arabischen suf (Wolle) ab, da die ersten islamischen Asketen wollene Gewänder trugen.  

Ambiguität des Sufi-Begriffs in muslimischen Quellen 

Der Begriff “Sufi” besitzt jedoch auch in muslimischen Quellen eine Ambiguität; er ist mal positiv, mal negativ belegt: Auf der einen Seite wird das Sufitum als idealer Weg der spirituellen und ethischen Selbstvervollkommnung beschrieben, auf der anderen Seite wird es wegen Verfälschung der islamischen Lehre angeprangert, wegen Exzessen und Machtmissbrauch (tatsächlich hat es solche Tendenzen auch immer wieder gegeben).

So hat das Wort “Sufi” etwa bei dem persischen Nationaldichter Hafis eine dezidiert negative Konnotation. Hafis prangert vor allem jene Zeitgenossen an, die sich wie Sufis kleiden und fromm auftreten, in ihrem Verhalten jedoch weit von spirituellen Idealen entfernt sind.  

Immer wieder begegnet man heute dem Versuch, den Sufismus als getrennt vom Islam darzustellen. Diese Tendenz ließ sich in den letzten Jahrzehnten zunächst in der westlichen Forschung erkennen, die versuchte, den Sufismus als eine Leihgabe aus anderen spirituellen Traditionen zu erklären. Auch wenn es den lebendigen Austausch zwischen den mystischen Traditionen gegeben hat — etwa im goldenen Zeitalter von Al-Andalus — greift diese Erklärung zu kurz.  

Parallelen in den Schriften und Traditionen von Mystikern anderer Religionen deuten nicht etwa darauf hin, dass sich die Sufis etwas abgeschaut hätten. Solche Parallelen verweisen auf die Existenz eines dem Menschen innewohnenden Wesenskerns, der an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Wegen seinen Ausdruck findet. Wer tiefer in die islamische Tradition eindringt und sich mit Sufi-Textquellen befasst, wird erkennen, dass die Grundlagen des Sufismus im Koran und in den Aussprüchen Mohammeds liegen.  

Ein Polizist bewacht den Schrein des Sufi-Heiligen Shah Rukn-e Alam in Multan, Pakistan; Foto: Getty Imges/AFP/SS Mirza
Von Fundamentalisten bedroht: In Pakistan wird der Schrein des Sufi-Heiligen Shah Rukn-e Alam in Multan von Polizisten bewacht. "Wer die Religion auf ein externes Regelwerk reduziert und den 'wahren Islam' für sich beansprucht, ist gänzlich von der inneren Dimension des Islam abgeschnitten,“ schreibt Marian Brehmer. "Dass der Sufismus jahrhundertelang die Religionsausübung der Muslime prägte, wissen die Islamisten nicht. In ihrer Arroganz, die aus einer gänzlichen Unkenntnis der islamischen Geschichte rührt, stellen sie die Mystik als verfälschten Islam dar.“  



Zudem entspringt der Eindruck, der Sufismus habe nichts mit dem Islam zu tun, einem einseitigen und zugleich tief verwurzelten Bild vom Islam als einer “Religion des Schwerts”. Wie konnte es sein, dass eine gewalttätige oder gar vom Teufel gesandte Religion — wie es in der Kirche lange hieß — etwa die Schönheit und Toleranz der Sufi-Dichtung des persischen Poeten Dschalaluddin Rumi hervorgebracht hat?



Auch in unseren modernen Diskussionen lässt sich eine ähnliche Perspektive erkennen: Wessen Bild des Islam vor allem durch Nachrichten von Terrorismus und Fundamentalismus geprägt ist, der zeigt sich überrascht, dass Sufi-Kultur und Islam zusammenhängen. 

Abgeschnitten von der inneren Dimension des Islam 

Ironischerweise findet die Perspektive auf den Sufismus als eines vom Islam losgelösten Phänomens heute ihr Spiegelbild unter islamischen Fundamentalisten in muslimischen Gesellschaften. Wer die Religion auf ein externes Regelwerk reduziert und den “wahren Islam” für sich beansprucht, ist gänzlich von der inneren Dimension des Islam abgeschnitten. Dass der Sufismus jahrhundertelang die Religionsausübung der Muslime prägte, wissen die Islamisten nicht. In ihrer Arroganz, die aus einer gänzlichen Unkenntnis der islamischen Geschichte rührt, stellen sie die Mystik als verfälschten Islam dar.  

Vor dem 19. Jahrhundert, so schreibt der Sufi-Forscher Carl Ernst im “Shambhala Guide to Sufism”, sei es schier unmöglich gewesen zu sagen, der Sufismus habe nichts mit dem Islam zu tun. Tatsächlich seien bis ins späte 18. Jahrhundert die führenden Religionsgelehrten in Mekka und Medina tief vom Sufismus beeinflusst gewesen. Erst mit dem Vormarsch des Islamismus als Ideologie als Antwort auf den westlichen Imperialismus wurde der Sufismus zunehmend zum Fremdkörper erklärt. 

 

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Wer also heute den Sufismus begreifen will, muss sich zunächst durch dicke Schichten von Missverständnissen und Polarisierung bohren. So gehört Rumi in den USA zwar seit Jahren zu den am meisten gelesenen Dichtern. Seine Wurzeln als islamischer Theologe und Prediger kennt jedoch kaum jemand.

Um Rumis Verse einem sinnhungrigen New-Age-Publikum schmackhaft zu machen, wurde sämtliche islamische Symbolik aus seinen Gedichten getilgt. Dabei enthält Rumis Hauptwerk, das Masnavi, Tausende von direkten Zitaten aus dem Koran. Das Problem ist auch hier, dass wir so dem Islam absprechen, jemanden wie Rumi hervorgebracht haben zu können. Der Islam wird im Westen reduziert auf ein jahrelang reproduziertes Bild dessen, was ihn angeblich ausmache. 

Das ist fatal, denn wir verstellen uns damit den Blick auf eine spirituelle Kultur, die nicht nur Anknüpfungspunkte für den interkulturellen Dialog bietet, sondern auch Lösungsansätze für die vielfältigen Sinnkrisen unserer Zeit. Dies gilt auch für die Sinnkrise des Islam selbst, zu der William Chittick, einer der renommiertesten Kenner der islamischen Mystik, schreibt: “Wo der Geist (des Sufismus) blüht, ist der Islam in seinen eigenen geistigen und moralischen Ideen lebendig, aber in dem Maße, in dem dieser verkümmert, wird der Islam vertrocknet und steril, wenn er überhaupt überleben kann.”  

Marian Brehmer

© Qantara.de

Marian Brehmer hat Iranistik studiert und schreibt als freier Autor mit dem Schwerpunkt islamische Mystik aus Istanbul. Kürzlich erschien sein Buch “Der Schatz unter den Ruinen: Meine Reisen mit Rumi zu den Quellen der Weisheit” (Herder, 2022).