Schwierige Suche nach vermissten Opfern des IS
"Mein Bruder wurde vom 'Islamischen Staat' (IS) verhaftet", erzählt Abdullah Ramadan Mohammed aus der zentralirakischen Stadt Hawija. Als der IS die Stadt im Frühsommer 2014 gewaltsam einnahm, beschuldigten die Extremisten Mohammeds Bruder der Spionage. Der Grund: Er hatte für die irakische Regierung gearbeitet - das reichte für den Vorwurf schon aus. Der Spionage-Vorwurf sei "völliger Unsinn" gewesen, sagt Mohammed.
Zurückgekehrt ist sein Bruder bis heute nicht, er gilt als verschollen. Über Monate hatte Mohammed zuvor noch versucht, Informationen über den Verschwundenen zu erhalten. Er besuchte auch mehrere vom IS betriebene Gefängnisse, fand aber über den Verbleib seines Bruders nichts heraus, auch nicht, nachdem die irakische Armee den IS Ende 2017 aus Hawija vertrieben hatte. Keinerlei Informationen, keinerlei Spuren. "Jetzt gibt es hier niemanden mehr, den ich fragen kann", sagt Mohammed. "Ich werde ihn nie vergessen. Aber was kann ich tun?!"
Tausende tot oder vermisst
Mohammed ist nur einer von tausenden Bürgerinnen und Bürgern in Hawija, die nach dem Ende der IS-Schreckensherrschaft immer noch keine Gewissheit über das Schicksal ihrer verschleppten Familienmitglieder haben. Als der IS Hawija verließ, zählte man in der Stadt rund 7000 Tote und 5000 Vermisste.
Vermutlich befindet sich die Leiche seines Bruders in einem der Massengräber in der Nähe der Stadt. Doch bis die Identitäten der Toten zweifelsfrei erwiesen werden können, werden sich Mohammed und seine Familie noch gedulden müssen.
Bislang hat das für die Identifizierung zuständige Direktorat für Massengräber der irakischen Regierung lediglich die Exhumierung von Gräbern an einem Ort am Fuße des Hamrin-Gebirges im Nordosten des Irak geplant. Dort sollen jesidische Frauen begraben sein, die versucht hatten, dem IS zu entkommen und dabei getötet wurden.
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden im Irak bisher mehr als 200 Massengräber gefunden, die mit dem IS in Verbindung gebracht werden. Sie könnten bis zu 12.000 Leichname enthalten.
Kaum Fortschritt bei Exhumierung
Bisher habe sein Team lediglich Exhumierungen an 29 von 114 Orten vornehmen können, an denen IS-Opfer begraben sind, sagt Dia Karim Saidi, Leiter des Direktorats. In den dabei bislang gefundenen 81 Gemeinschaftsgräbern befänden sich vermutlich die sterblichen Überreste von rund 3000 Menschen. Das Direktorat arbeitet auch mit den Ermittlern von UNITAD zusammen, dem Untersuchungsteam der UN, das die vom IS begangenen Verbrechen juristisch aufarbeitet. Ebenfalls vor Ort ist die Internationale Kommission für vermisste Personen (ICMP).
Die meisten dieser exhumierten Gräber enthielten Leichname von Angehörigen der ethnisch-religiösen Minderheit der Jesiden. Dem IS wird vorgeworfen, an ihnen einen Völkermord begangen zu haben. Der Großteil dieser Gräber befindet sich in der nordirakischen Provinz Sinjar, der traditionellen Heimat der Glaubensgemeinschaft. Viele der menschlichen Überreste wurden identifiziert, einige auch im Nachhinein noch feierlich beigesetzt.
Das aber sorgt in Hawija teils für Unmut. Der Untersuchung jesidischer Gräber werde Vorrang eingeräumt, beklagen sich Familienangehörige sunnitischer Vermisster. Darauf angesprochen, macht Karim Saidi dafür die unzureichende Finanzierung des von ihm geleiteten Direktorats verantwortlich. Sein Team hat nur 45 Mitglieder, es fehle an zahlreichen Ressourcen. "Wir brauchen die Mittel von UNITAD und ICMP, um arbeiten zu können", sagt er. Es seien die UN-Organisationen, die entschieden, welche Massengräber Priorität haben, deutet er auf diese Weise an.
Dima Babili, Sprecherin der ICMP, bestreitet das. Es seien die lokalen Behörden, die den Zeitplan für die Durchführung von Ausgrabungen festlegten. "Unser Ziel ist es, den Irak dabei zu unterstützen, einen nachhaltigen Prozess zu schaffen, um alle vermissten Personen zu finden, unabhängig von ihrer Herkunft, dem Zeitpunkt oder den Umständen ihres Verschwindens."
Saddams düsteres Erbe
Bei der Exhumierung von Massengräbern hat der Irak zudem eine historische Last zu tragen. Der 2003 gestürzte Diktator Saddam Hussein war für Massengräber an 98 Orten im Lande verantwortlich. Auch von diesen sind 22 noch nicht exhumiert worden. Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zufolge verzeichnet der Irak die höchste Zahl an Vermissten weltweit: Schätzungen gehen von 250.000 bis zu einer Million Menschen aus.
Neben der hohen Zahl der Gräber sehen sich die Mitarbeiter der irakischen Exhumierungsteams auch anderen Schwierigkeiten gegenüber. So spielt gelegentlich das Wetter nicht mit. Oder es halten sich noch kleinere Zellen des IS in einem Gebiet auf und stellen ein nicht kalkulierbares Risiko dar.
Die Ungewissheit über das Schicksal der Angehörigen sei lähmend, sagt Ahmed al-Muhairi, ein örtlicher Stammesführer. Auch sein Vater und sein Onkel werden vermisst. "Die Familie hofft immer noch, dass sie zurückkehren werden", sagt er. Doch die Wahrscheinlichkeit dafür liege bei null, glaubt er. "Deshalb sprechen wir nicht darüber, was mit ihnen passiert ist. Das Thema ist tabu."
Al-Muhairi nimmt an, dass seine Verwandten wohl niemals gefunden werden. Er hat bereits bei verschiedenen Regierungsstellen nachgefragt - ohne Ergebnisse. "Die Behörden ziehen vor, das Geschehene zu vergessen", sagt er.
Diskriminierung bis ins Grab?
Viele der noch nicht untersuchten Massengräber liegen in sunnitischen Gebieten. Zwar beruft sich der IS selbst auf den sunnitischen Islam. Das hält seine Milizen aber seit jeher nicht davon ab, auch sunnitische Muslime zu töten.
Deren sterbliche Überreste würden kaum exhumiert, ist unter Iraks Sunniten oft anklagend zu hören – mit einer ähnlichen Argumentation wie auch bezüglich der jesidischen IS-Opfer: Massengräber, die vermutlich schiitische IS-Opfer enthielten, seien anders als sunnitische längst mehrheitlich exhumiert worden. Diskriminierung gegenüber anderen wird hier über den Tod hinaus empfunden.
Die Ungewissheit über das Schicksal der Verschwundenen ist für Angehörige nicht nur zermürbend. Es hat teils auch ökonomische Auswirkungen. Die Witwe von Mohammeds verschwundenem Bruder etwa ist mit den Kindern des Paares in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Auf eine staatliche Witwenrente wartet sie bisher vergeblich. Denn diese zahlt Iraks Regierung erst, wenn der Tod ihres Mannes nachgewiesen ist.
"Es gibt Hunderte, wenn nicht Tausende von Familien, die Angehörige vermissen", erklärte kürzlich der Gouverneur der Provinz Ninawa, Najm Jibouri. Die Provinzhauptstadt von Ninive, Mossul, war ebenfalls vom IS besetzt. Entsprechend liegen auch dort Massengräber. "Die Überlebenden machen sich weiterhin Sorgen. Deshalb müssen wir umgehend alle Leichname in diesen Massengräbern identifizieren", so Jibouri.
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