''Es gibt keinen Kampf der Kulturen''
"Hast du je einen Adler zusammen mit einer Krähe fliegen sehen?", fragt der Protagonist der Erzählung "Primo. Ein türkischer Bursche." Geschrieben wurde sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Ömer Seyfettin. "Nein, hast du nicht, denn jeder Vogel bleibt bei seinesgleichen." Ömer Seyfettin gilt als Vater der türkischen Nationalliteratur, dem die Reinheit der türkischen Sprache und die Bildung einer nationalen Identität des Landes besonders am Herzen lagen.
Viel schrieb er deshalb über die Frage nationaler Minderheiten. Da er bei der Nationalität eines Menschen in Kategorien von Vogelschwärmen dachte, hielt er den Kosmopolitismus für das schlimmste Übel, das der Türkei begegnen konnte. In seiner Idealvorstellung sollten Türken mit Türken zusammenleben, und wenn jemand ein Nichttürke war, war es das Beste für ihn, woanders zu leben. Deshalb endet die obige Geschichte auch damit, dass die nichttürkischen (in diesem Fall griechischen) Diener das Haus verlassen mussten und durch türkische Diener ersetzt wurden.
Das Haus dient dabei als Metapher, als Mikrokosmos dessen, was auch im Großen passierte. Seyfettin und seine Anhänger wollten alle Nichttürken aus dem Haus entfernen, dann aus der Nachbarschaft, der Stadt und schließlich aus dem ganzen Land. Seyfettin starb 1920, also noch bevor die neue türkische Republik proklamiert wurde, und doch suchen uns die Geister, die er beschwor, bis heute heim.
"Ich weiß nicht, was ich bin!"
Lange vor Ömer Seyfettin, nämlich bereits im 13. Jahrhundert, lebte ein Poet und Mystiker in Anatolien, der den Namen Dschalal ad-Din Rumi trug. "Was kann ich tun?, Muslime. Ich weiß nicht, was ich bin!", sagte er. "Ich bin weder ein Christ, noch ein Jude oder Muslim, und an Zarathustra glaube ich auch nicht ..." Welchen Unterschied würde die Religion oder Nationalität auch machen, solange man sich mit ihr der Wahrheit nähern wollte und ihr treu bliebe. Interessanterweise interessierte sich auch Rumi für die Vogel-Metapher, wenn auch in ganz anderem Sinne.
Mehr als den Vögeln, die immer in einem Schwarm flogen, fühlte er sich denen verbunden, die sich keiner Gruppe verbunden fühlten. Er mochte lahme Vögel. In einer der vielen Geschichten in seinem langen Gedicht "Mathnawi" sieht ein Weiser eine Krähe und einen Storch, die zusammen fliegen und nach Nahrung suchen. Überrascht betrachtet er sie genauer und erkennt, dass sie beide lahm sind, deshalb nicht mit ihren Schwärmen fliegen konnten und sich so gegenseitig halfen — Solidarität zweier Ausgestoßener. Das Erbe, das Dschalal ad-Din Rumi hinterließ, ist tief in der türkischen Gesellschaft verankert, selbst nach Abschaffung der Sufi-Bruderschaften durch die kemalistischen Reformer, die die Gesellschaft von oben modernisieren wollten.
Kampf innerhalb der Nationen
Sowohl die nationalistische und exklusivistische Sicht Seyfettins als auch die integrative oder gar kosmopolitische Einstellung Rumis finden heute in der Türkei noch Anhänger. Die türkische Zivilgesellschaft ist sehr viel heterogener als es in den westlichen Medien oftmals dargestellt wird. Es gibt keinen "Kampf der Kulturen" zwischen der Türkei und der Europäischen Union, oder zwischen Ost und West. Vielmehr gibt es einen Kampf der Meinungen, und zwar in jedem einzelnen Land. Auf der einen Seite stehen jene, die glauben, dass sie ohne die anderen besser dran sind (oder gar, dass sie besser seien als die anderen). Sie wollen unter sich und ihresgleichen bleiben — Menschen der gleichen Religion, der gleichen Herkunft und der gleichen Vorstellungen.
In "Fremde" haben sie kein Vertrauen. Auf der anderen Seite stehen die, die glauben, dass wir alle voneinander abhängen und aufeinander angewiesen sind: wirtschaftlich, kulturell und sozial; dass es keine abgeschotteten Nationen geben kann, sondern alles ein Geben und Nehmen ist. Zu ersteren gehören die religiös begründeten Konservativen und Nationalisten, zu letzteren die Kosmopoliten und Liberalen. Wenn es einen "Kampf" gibt, dann innerhalb der Nationen und nicht zwischen ihnen.
"Lahme Vögel" für Ausbau der Zivilgesellschaft
So auch in der Türkei, wenn der Konflikt hier auch etwas anders geartet ist. Er vollzieht sich entlang einer Trennungslinie zwischen den Kräften, die sich am Staat orientieren, und zwischen denen, die für den Ausbau der Zivilgesellschaft sind. Das Vertrauen in die staatliche Autorität ist in der Türkei stark ausgeprägt. Dabei kommt es zu merkwürdigen Allianzen zwischen Armeeoffizieren und konservativen Bürokraten, engagierten Diplomaten und ultranationalistischen Grauen Wölfen, radikalen Linken und Kemalisten und einigen Islamisten.
Die drei letzten Versuche eines Militärputsches (wie auch verschiedene kriminelle Aktionen nationalistischer Paramilitärs) wurden im Namen des "Schutzes staatlicher Interessen" verübt. Diejenigen, die sich der Zivilgesellschaft verpflichtet fühlen, wollen den Einfluss der Armee und des Staatsapparates zurückdrängen und sich für eine Stärkung der kosmopolitischen, multikulturellen und multi-ethnischen Struktur der türkischen Gesellschaft einsetzen. Und diese zweite Unterströmung ist es, die die weitere politische und soziale Entwicklung der Türkei fördern wird. Sie ist es, für die wir türkischen Intellektuellen - oder lahmen Vögel - uns engagieren.
Elif Şafak
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