Die neuen Hüter der Moral
Das liberale Ägypten steht Kopf. Die Verurteilung des ägyptischen Schriftstellers Ahmed Naji zu zwei Jahren Haft wegen der Veröffentlichung von "sexuell schamloser Literatur" hat unter Künstlern, Intellektuellen und Menschenrechtlern im Land einen Aufschrei der Entrüstung ausgelöst. Der Abdruck eines Kapitels von Najis Roman "Gebrauchsanweisung für das Leben" (Istikhdam al-Haya) im Literaturmagazin "Akhbar Al-Adab" im August 2014 verletze die öffentliche Moral, so die Staatsanwaltschaft im Kairoer Stadtbezirk Bulaq. In einem ersten Verfahren war Naji noch freigesprochen worden, doch ein Berufungsgericht in Bulaq verurteilte ihn am 20. Februar 2016 zur Höchststrafe.
Nach der turbulenten Gerichtsverhandlung wurde Naji noch im Gerichtssaal verhaftet und sitzt mittlerweile im Hochsicherheitsgefängnis Tora im Süden Kairos. Der Prozess verlief chaotisch, berichtet die Anwältin Yasmin Hossam Al-Din, die Najis Verteidigung beratend zur Seite steht.
Der Staatsanwalt habe Najis Anwälte laufend unterbrochen und in seinem eigenen Plädoyer nicht zwischen einer fiktiven Figur des Romans und dem Autoren selbst differenziert, erzählt sie. Najis Verteidigung will in Berufung gehen und hat vorläufige Haftentlassung beantragt. Bisher jedoch ohne Erfolg.
Die Künstler- und Intellektuellenszene Ägyptens fürchtet derweil um nicht weniger als die Meinungs- und Kunstfreiheit im Land. Einige ägyptische Autoren haben bereits angekündigt, ihre literarischen Arbeiten öffentlich verbrennen zu wollen – als Protest gegen die drohende Einschränkung der Meinungsfreiheit. Denn der Fall Naji ist kein Einzelfall.
Erst im Januar 2016 war die Dichterin Fatima Naoot wegen Beleidigung des Islams zu drei Jahren Haft verurteilt worden, weil sie bei Facebook das Schlachten von Tieren vor dem islamischen Opferfest kritisiert hatte. Die Menschenrechtsorganisation "Arab Network for Human Rights Information" ging sogar soweit, das Urteil in einer Stellungnahme mit der Inquisition zu vergleichen.
Doch Ägyptens Justiz geht derzeit nicht nur gegen Literatur- und Kunstschaffende vor, sondern greift nach der Deutungshoheit in Fragen der Religion. Nach der aufsehenerregenden Verurteilung des TV-Predigers Islam Al-Beheiry wegen Religionsbeleidigung, verhängte ein Jugendgericht in Minya im Februar Haftstrafen gegen vier junge Kopten wegen angeblicher Verhöhnung islamischer Gebetsrituale. Die Häufung derartiger Fälle im vergangenen Jahr wird in liberalen Kreisen im Land als besorgniserregend wahrgenommen.
Staatlich forcierte Moralpolitik
Der massive Druck auf gesellschaftliche Norm- und Moralvorstellungen erhöht sich unterdessen nicht nur auf juristischer Ebene, sondern erfasst die Berufsverbände, zivilgesellschaftliche Organisationen und Künstler. So mündete im vergangenen Februar ein Konzert einiger Metal-Bands in Kairo in einen öffentlichen Schlagabtausch zwischen den Organisatoren und dem Vorsitzenden des Musikersyndikats Hany Shaker, der die aufgetretenen Bands als Teufelsanbeter diffamierte und ihnen vorwarf, "Chaos und Unsittlichkeit" unter Ägyptens Jugend zu verbreiten.
Die Polizei habe gar versucht, das Konzert zu unterbinden, sei aber erst nach Ende der Veranstaltung in der Konzerthalle eingetroffen, heißt es in der ägyptischen Presse. Das Syndikat hatte bereits im Oktober 2015 für Aufsehen gesorgt, als es in einer kontrovers diskutierten Entscheidung sittsame Kleidung für Musikerinnen forderte.
Dieses zunehmend normativ aufgeladene Klima am Nil ist derweil auch Ausdruck des Versuches seitens des herrschenden Regimes, die Kontrolle über die Deutungshoheit in Fragen der Religion und der gesellschaftlichen Moralvorstellungen zurückzugewinnen.
Staatspräsident Abdel Fattah Al-Sisi rief in diesem Zusammenhang mehrfach zu einer religiösen Erneuerung auf, wobei er den Gelehrten der Al-Azhar-Moschee die alleinige Berechtigung für eine derartige Reform zuschreibt und individuelle Vorstöße oder Meinungen konsequent ablehnt.
Doch Al-Sisis religiöse Rhetorik und sein Eintreten für einen straff hierarchischen Ansatz in Fragen der Moral und Religionsauslegung ruft inzwischen heftige Kritik hervor. Erst letzte Woche bezeichnete der prominente Kolumnist Ibrahim Eissa in der Tageszeitung "Al-Maqdal" Al-Sisis Regentschaft als "Theokratie". Sie unterscheide sich wenig vom erzkonservativen Klima unter der 2013 gewaltsam gestürzten Regierung des islamistischen Ex-Präsidenten Mohamed Mursi. "Ihr Staat ist eine Theokratie, obwohl Sie laufend von einem modernen, zivilen Staat reden", richtete Eissa das Wort an Ägyptens Staatschef.
Moral- und Religionsdiskurs als Mittel zum Zweck
"Das Al-Sisi-Regime hat die Muslimbrüder gestürzt und ersetzt und muss der Öffentlichkeit nun beweisen, dass auch sie gute Muslime sind", meint eine junge Theaterschauspielerin, die anonym bleiben will. Auf der anderen Seite entspreche diese islamisch aufgeladene Rhetorik der Politik viel eher den Vorstellungen der Mehrheit im Land, vor allem in den traditionell geprägten ländlichen Regionen. Das Urteil gegen Naji werde deshalb auch nur von einer kleinen Minderheit abgelehnt und skandalisiert, betont sie.
Auch der Bauunternehmer und Linkspolitiker der "Sozialistischen Volksallianz" Mamdouh Habashi geht hart mit Al-Sisis ultrakonservativer Gangart ins Gericht, erkennt in der Moral- und Religionsrhetorik Al-Sisis aber weniger einen Versuch des Regimes, die Klientel der Bruderschaft zu bedienen als vielmehr eine gezielte Attacke auf den öffentlichen Raum. "Das Regime ist bemüht die Öffnung des öffentlichen Raumes, die durch den Aufstand von 2011 entstand, konsequent einzuschränken und wieder zu schließen und dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt", so Habashi.
Dies betreffe nicht nur künstlerische und gesellschaftliche Freiheiten, sondern auch politische. "Nach der Konterrevolution 2013 muss das Regime die Volksmassen wieder unter Kontrolle bringen, da mobilisierte Massen für die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung gefährlich werden können. Daher wird die bereits im 19. Jahrhundert begonnene Säkularisierung des Staates nicht nur nicht weitergeführt, sondern sogar aktiv torpediert", meint Habashi.
Ein wichtiges Beispiel dafür seien die Ausgaben für Bildung und die Bekämpfung der Analphabetenrate, die immer noch bei über 40 Prozent läge, sagt er. Denn Massen, die nicht richtig ausgebildet werden, seien einfacher zu handhaben als Menschen, die unbequeme Fragen stellten, so Habashi.
Vor diesem Hintergrund überrasche es wenig, dass das Regime seine Ausgaben für den chronisch unterfinanzierten Bildungssektor in den letzten Jahren sogar noch weiter zurückgefahren habe. "Das Regime missachtet damit die Verfassung von 2014, denn hier werden explizite Vorgaben für Bildungsausgaben gemacht." Eine Säkularisierung von Staat und Gesellschaft wird damit weiterhin konsequent behindert.
Sofian Philip Naceur
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