Das Vermächtnis des Friedensvertrags von Lausanne
Um den Friedensvertrag von Lausanne ranken sich etliche Verschwörungsmythen. Laut der Verschwörungserzählung L23 – sie steht für Lausanne23 – laufen am 24. Juli 2023 die geheimen Zusatzklauseln des Vertrags ab. Dann werde nach diesem Narrativ die Türkei endgültig ihre vollständige Souveränität zurückerlangen, ungehindert ihre Bodenschätze und Rohstoffe ausbeuten und immensen Wohlstand generieren können.
Dabei war es genau der Vertrag von Lausanne, der die Kapitulationen abschaffte, die Großmächten wirtschaftliche Sonderrechte und deren Staatsbürgern extraterritoriale Rechte garantierten. Indem Minderheiten die Staatsbürgschaftsrechte erhielten, entfielen ihre Privilegien und die Vorwände europäischer Großmächte für Interventionen.
Der Friedensvertrag von Lausanne ist das Gründungsdokument der Türkischen Republik. Er erkennt die Türkei als unabhängigen Staat an und verankert den Staat völkerrechtlich.
Kein Diktatfrieden
Mit dem Friedensvertrag von Lausanne hat die Türkei auch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangt. Die Rückzahlungen eines Teils der Schulden des Osmanischen Reichs, die auf den türkischen Staat übergingen, wurde bis in das Jahr 1954 gestreckt. Dieser lange Zeitraum ließ dem Staat genug finanziellen Spielraum, um in eine Bildungsoffensive, kulturelle Reformen und Industrialisierung zu investieren.
Die Regierung konnte eine Wirtschaftspolitik betreiben, die ihren Wachstumszielen entsprach. In Lausanne erzielte die türkische Delegation unter der Führung von İsmet İnönü einen stabilen Frieden, der kein Diktatfrieden war. Anders als alle anderen "Friedensverträge“ nach dem Ersten Weltkrieg, bei denen unterlegenen Parteien Bedingungen diktiert wurden, war der Lausanner Vertrag das Ergebnis von Verhandlungen.
Wenn sich dennoch Verschwörungsmythen um diesen Vertrag ranken, dann dienen diese dazu, von wirtschaftlichen Entbehrungen und der politischen Misere heute abzulenken. Sie kompensieren die kognitive Dissonanz, die sich aus der Spannung zwischen dem von der Regierung propagierten Narrativ einer starken Türkei und den real existierenden, massiven wirtschaftlichen Problemen ergibt.
Der Verschwörungsmythos L23 gibt den Menschen die vermeintliche Hoffnung auf den einen Moment, in dem der Knoten endlich platzt und alles besser wird, so interpretiert Selim Koru, Analyst am US-amerikanischen Foreign Policy Research Institute, diese Erzählung.
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Kampf um die Deutungshoheit
Der Friedensvertrag von Lausanne ist auch ein Instrument im Kampf um die Deutungshoheit über die richtige Interpretation der Geschichte der modernen Türkei. So verbinden Islamisten und Ultrakonservative den Vertrag mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches, mit Gebietsverlusten und der Kapitulation vor dem Westen. Sie stellen dem Gründungsnarrativ der Republik Türkei ein Narrativ des Zerfalls gegenüber.
Es war der türkische Präsident Erdoğan, der als erster hochrangiger Entscheidungsträger den Friedensvertrag von Lausanne ins Visier nahm. In einer Zeit wachsender Spannungen mit Griechenland bezeichnete er den Vertrag als ungerecht und machte ihn für die Schwäche der Türkei gegenüber dem Westen verantwortlich.
Er forderte eine Revision der im Vertrag von Lausanne festgelegten Grenzen zu Griechenland und beanspruchte mehrere Inseln in der Ägäis mit der Begründung, dass Griechenland durch die Militarisierung dieser Inseln den Vertrag mit Füßen trete. Sein Revanchismus beschränkte sich jedoch auf politische Symbolik: Die Umwidmung des berühmten ehemaligen Istanbuler Museums Hagia Sophia in eine Moschee fand am 24. Juli 2020, dem Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne, statt.
Dabei war der Vertrag von Lausanne alles andere als ein Dokument der Demütigung, das die Türkei innen- und außenpolitisch in Ketten legte.
Der Weg zum Lausanner Vertrag
Das Osmanische Reich trat 1914 an der Seite der Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien in den Ersten Weltkrieg ein, am 30. Oktober 1918 ersuchte es den Waffenstillstand. Das Land lag in Trümmern, die Hauptstadt Istanbul wurde von Alliierten besetzt, Nachbarstaaten und Großmächte stritten sich um die Überreste des Osmanischen Reichs.
Am 10. August 1920 musste die osmanische Regierung den Diktatfrieden akzeptieren, mit dem sie ihre Souveränität auch über das verbliebene Staatsgebiet aufgab. Ziel der Alliierten war die vollständige Zerschlagung des Osmanischen Reiches. "Die hohen Ziele des Krieges schließen die Verdrängung des der westlichen Zivilisation so völlig fremden Osmanischen Reiches aus Europa ein“, so hatte der französische Ministerpräsident und Außenminister Aristide Briand 1917 das Kriegsziel formuliert.
Bald formierte sich aber eine nationale Widerstandsbewegung, die die alliierten Pläne zur Aufteilung des Landes durchkreuzte. Bereits im September 1921 gelang es den Truppen Ankaras unter General Mustafa Kemal Pascha, den griechischen Vormarsch in Zentralanatolien endgültig zu stoppen.
Im folgenden Sommer ging Mustafa Kemal in die Offensive und trieb die geschlagenen Griechen vor sich her. Am 9. September 1922 zogen türkische Verbände in Izmir ein. Die Regierung in Ankara hatte bewiesen, dass die Siegermächte des Ersten Weltkrieges nicht nach Belieben über das türkische Kernland verfügen konnten.
Republikanismus, Säkularismus und Souveränität
Der Friedensvertrag von Lausanne besiegelte völkerrechtlich den türkischen militärischen Sieg und legte den Grundstein für die Republik Türkei. Er ebnete den Weg zur Abschaffung von Sultanat und Kalifat und gab Mustafa Kemal Pascha die Möglichkeit, sich auf die Innenpolitik zu konzentrieren und umfassende Strukturreformen durchzuführen.
Die Regelungen, soweit sie Arabien und den Nahen Osten betrafen, blieben unangetastet. Alle anderen territorialen Bestimmungen aus dem Vertrag von Sèvres 1920 konnte die Türkei in ihrem Sinne revidieren - Gebietsabtretungen an Armenien oder die Kurden waren damit vom Tisch.
Allerdings musste die türkische Regierung auch Kröten schlucken. So erhielten die Briten die formelle Anerkennung ihrer Herrschaft über Zypern, der Status des Nordirak blieb ungeklärt, die ägäischen Inseln fielen an Griechenland, die Inselkette des Dodekanes in der östlichen Ägäis blieb unter italienischer Besatzung. Die türkischen Meerengen Bosporus und Dardanellen wurden entmilitarisiert.
Der Friedensvertrag von Lausanne erinnert an den Vertrag von Sèvres, der ein tiefes Trauma ausgelöst hat. Die Türkei leidet noch immer unter dem Sèvres-Syndrom, die Angst vor einer Zerstückelung durch ausländische Intrigen und Interventionen ist in der Bevölkerung weit verbreitet.
Entscheidungsträger und Diplomaten betrachten den Vertrag von Lausanne als Mahnung zu äußerster Vorsicht in der internationalen Politik und zur Skepsis gegenüber dem Westen. Die Lehren aus dem Friedensvertrag waren die Richtschnur für das Handeln der türkischen Regierung im Zweiten Weltkrieg, als die Türkei keine Kriegspartei war, und sie sind es auch heute noch.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Friedensvertrag von Lausanne einen Sieg über den europäischen Imperialismus und Kolonialismus darstellte und die Grundlagen für die Gründung der Türkischen Republik, die Nationenbildung und die Strukturreformen Atatürks schuf. Der Vertrag von Lausanne steht im Geiste des Republikanismus, des Laizismus und der nationalen Souveränität - und gegen Revanchismus und territorialen Expansionismus.
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Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am CATS - Centrum für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und lehrt zugleich an der Evangelischen Hochschule in Hamburg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Internationale Politik, Geopolitik, Türkeistudien, deutsche Außenpolitik, Migration, Nationalismus und Rassismus. Neben Fachbeiträgen schreibt er Kommentare für türkische und deutsche Zeitungen. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Türkei“ (2017) und "Graue Wölfe“ (2022).