Leben mit der Angst vor Abschiebung
Kurz bevor Khaled zurück in die Hölle musste, fuhr er auf seinem Motorrad umher. Wie jeden Tag hatte er Kaak in der Nachbarschaft ausgeliefert, das arabische Straßenbrot, knusprig und mit Sesam bestreut. Er hatte alles verteilt und wollte nach Hause fahren. Doch er sollte dort nicht ankommen.
Khaled kommt aus der syrischen Stadt Aleppo. Als 2012 der Krieg ausbrach, floh er mit seiner Frau und den sieben Kindern in den Libanon. In einem Zeltlager nahe der Stadt Bar Elias in der Bekaa-Ebene hat er sich ein neues Leben aufgebaut. Er hat Arbeit gefunden und seiner Familie ein bescheidenes Zuhause gebaut, eine aus riesigen Planen zusammengezimmerte Baracke. Von hier aus kann Khaled die Berge sehen, dahinter liegt Syrien, bis zur Grenze sind es nur wenige Kilometer. "Einfach war es im Libanon nie“, sagt Khaled. "Aber wir fühlten uns halbwegs sicher.“ Bis zu jenem Freitag im April.
Khaled ist 50 Jahre alt, er trägt Jeans, ein helles Hemd und eine beigefarbene Weste. Khaled heißt eigentlich anders. Um ihn und seine Familie zu schützen, werden weder sein richtiger Name genannt, noch Bilder von ihm gezeigt. Er kommt ins Stocken, wenn er davon erzählt, wie ihn die libanesische Armee festnahm, nach Syrien brachte und er von dort zurück in den Libanon fliehen musste. "Es war ein traumatisches Erlebnis“, sagt Khaled.
Im Armeewagen an die syrische Grenze
Die libanesischen Behörden haben in den vergangenen Jahren immer wieder vereinzelt syrische Geflüchtete deportiert. Vor ein paar Monaten aber haben sie begonnen, die Menschen massenhaft abzuschieben. Soldaten nehmen die Menschen an Checkpoints oder bei Razzien in Stadtvierteln und Zeltlagern fest und bringen sie an die syrische Grenze. Dort übergeben sie die Geflüchteten den syrischen Sicherheitskräften.
Wie viele Menschen in diesem Jahr bisher genau nach Syrien zurückgebracht wurden, lässt sich schwer ermitteln. Laut einem Bericht von Human Rights Watch soll die libanesische Armee allein zwischen April und Mai tausende Syrerinnen und Syrer, darunter auch Kinder, nach Syrien deportiert haben. Auch wenn die Abschiebungen im Moment nicht in dem Ausmaß stattfinden wie im Frühjahr leben viele Syrer und Syrerinnen in ständiger Furcht, dass ihnen das gleiche Schicksal bevorstehen könnte wie ihren Angehörigen, Freundinnen und Nachbarn.
Khaled weiß, was eine Abschiebung nach Syrien bedeutet. Er wurde an einem Checkpoint gestoppt. Die libanesischen Soldaten hielten ihn dort mehrere Stunden lang fest und sammelten immer mehr Syrer. Dann fuhren sie Khaled und die anderen in einem Armeewagen an die syrische Grenze. "Sie sagten uns weder, warum sie uns festhalten, noch, wo sie uns hinbringen“, sagt Khaled. Sie wurden direkt zum syrischen Grenzabschnitt gebracht, wo sie von ein paar Männern in Empfang genommen wurden.
Wer diese Männer waren, kann Khaled nicht sagen, doch es gibt Hinweise darauf, dass sie der Vierten Division der syrischen Armee angehören, einer Eliteeinheit, die unter der Kontrolle des Bruders von Machthaber Baschar al-Assad steht und in Syrien Tausende Menschen umgebracht haben soll.
Khaled sagt, die Männer hätten ihn noch an der Grenze zu einem Gebäude gebracht und in einen Raum gesperrt. "Dort waren hunderte Menschen“, sagt Khaled. "Es war so voll, dass wir dicht an dicht hocken mussten.“ Er sagt, die Männer hätten einige Syrer weggebracht, die mit ihm am Checkpoint verhaftet worden waren. "Ich weiß nicht, was mit ihnen passiert ist“, sagt Khaled. "Ich habe sie nie wiedergesehen."
Gestrandet in Damaskus
Nach drei Tagen wurde Khaled abgeholt und mit einem Bus nach Damaskus gebracht. Warum dorthin, wisse er nicht, sagt Khaled, er komme ja aus Aleppo. Der Fahrer habe ihn irgendwo in der Stadt rausgelassen. "Ich stand mitten in Damaskus und hatte nichts“, sagt Khaled. "Kein Geld, keine Unterkunft, keine Ahnung, was ich tun sollte.“ Das Einzige was ihm geblieben war: sein Handy. Er rief seine Frau an und kontaktierte dann einen Bekannten in Damaskus. "Bei ihm konnte ich unterkommen“, meint Khaled. "Aber ich hatte große Angst.“
Khaled sagt, er sei nie politisch aktiv gewesen. Doch das Assad-Regime geht nicht nur brutal gegen politische Gegner vor. Menschen, die aus Syrien geflohen sind, sieht das Regime als Verräter an, ihnen drohen drakonische Strafen. Khaled wollte nur zurück in den Libanon und ein paar Tage später gelang es ihm.
Wie Khaled die Grenze passieren konnte, möchte er nicht sagen. Menschenrechtsorganisationen zufolge bezahlen viele der abgeschobenen Syrer Schmuggler, die sie für mehrere hundert Dollar aus Syrien zurück in den Libanon bringen, offenbar sind Angehörige der Vierten Division in den Menschenhandel involviert.
Khaled hatte Glück: Auf der libanesischen Seite nahm ihn ein Motorradfahrer mit und brachte ihn nach Hause. "Meine Familie war erleichtert, dass ich heil zurück war“, sagt Khaled. Trotzdem war diese Erfahrung ein Einschnitt. Nicht nur, weil er sein Motorrad am Checkpoint zurücklassen musste. Ohne sein Motorrad kann Khaled kein Kaak verkaufen, zwei seiner Söhne gehen jetzt arbeiten und halten die Familie über Wasser. Sondern auch weil er fürchtet, dass ihn die Armee erneut abschieben könnte. ""Syrien ist nicht sicher“, sagt er.
Syrer fühlen sich nicht mehr willkommen
Alle syrischen Geflüchteten sind potentiell von den Abschiebungen betroffen, besonders aber jene, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Und das sind viele. Der Libanon mit seinen rund fünf Millionen Einwohnern hat seit Kriegsbeginn rund zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Nur knapp 800.000 Syrerinnen und Syrer sind beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) registriert.
Syrian refugees in #Lebanon face deportation on questionable grounds as campaigns are increasingly led by the Lebanese army & local-level security actors—including #Hezbollahhttps://t.co/KDy4G87U9D
— ETANA (@ETANA_Syria) October 1, 2023
Das hat einen Grund: Bis Anfang 2015 konnten Syrer, die vor dem Krieg flohen, ohne Visum in den Libanon kommen. Dann verhängte die libanesische Regierung einen Registrierungsstopp und verfügte strenge Auflagen für die Erneuerung der Aufenthaltspapiere. Viele Geflüchtete sind seitdem ohne gültige Papiere im Land. Sie können sich nicht frei bewegen und haben kaum Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung.
Unter den schwierigen Bedingungen leiden indes alle Geflüchteten. Es gibt keine offiziellen Flüchtlingslager, da die Regierung nicht will, dass die Geflüchteten aus Syrien dauerhaft bleiben – wie die palästinensischen Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten im Libanon leben. Viele Syrerinnen und Syrer leben in informellen Zeltlagern an der syrischen Grenze, in leerstehenden Gebäuden oder auf der Straße. Die meisten kommen kaum über die Runden.
Und sie fühlen sich immer weniger willkommen. Viele sagen, dass die Anfeindungen zuletzt stark zugenommen hätten. Viele Libanesen zeigten unverhohlen, dass sie die Syrer loswerden wollten. Je schlechter es dem Libanon gehe, sagen sie, desto schlechter behandle das Land seine Gäste.
Der Libanon zerfällt
Und dem Libanon geht es sehr schlecht. Die Wirtschaft ist kollabiert und die Währung verfälllt zusehends. Der Staat ist pleite und kann kaum noch Güter importieren. Immer wieder fällt der Strom aus, es gibt kaum noch Diesel und Benzin, viele Läden sind geschlossen. Jeden Tag zerfällt der Libanon ein bisschen mehr. Die Verantwortung für die schwere Krise trägt eine politische Klasse, die sich über Jahrzehnte selbst bereichert hat, anstatt zu regieren.
Doch viele Libanesen sind nicht nur wütend auf die zügellose Vetternwirtschaft, die den Libanon in den Abgrund gestürzt hat. Sie sehen die Schuld auch bei den syrischen Geflüchteten. Die Abneigung gegen die Syrer ist nicht neu: Von 1976 bis 2005 besetzten syrische Truppen den Libanon und viele Libanesen denken mit Unbehagen an diese Zeit zurück.
Mit den vielen Geflüchteten im Land hat der Hass zugenommen und die Stimmung kippt immer mehr: Syrerinnen und Syrer werden beleidigt und zusammengeschlagen, in manchen Gemeinden müssen sie sich an strenge Ausgangssperren halten. Auf Protestmärschen fordern radikale Gruppen die Behörden auf, alle Syrer auszuweisen.
Angestachelt werden sie von der religiösen und politischen Elite. Kleriker und Politiker behaupten etwa, die Geflüchteten würden die Ressourcen aufbrauchen und das Land ausbluten. Das Innenministerium hat den Kommunen verboten, Wohnungen an nicht-registrierte syrische Geflüchtete zu vermieten.
Für die Betroffenen hat diese Stimmungsmache dramatische Folgen. Viele Syrer leben in dem Gefühl, dass sie jeden Moment abgeschoben werden könnten. So wie Khaled, dessen Magen sich jetzt immer zusammenzieht, wenn er einen Checkpoint der libanesischen Armee sieht. Andere gehen kaum noch aus dem Haus, weil sie fürchten, dass Nachbarn sie bei den Behörden melden könnten. Wie groß die Angst ist, zeigt sich auch bei der Recherche: Kaum jemand möchte mit Journalisten sprechen, vereinbarte Interviews platzen in letzter Minute.
Rückkehrer werden bestraft und gequält
Das Gefühl des Ausgeliefertseins ist bei vielen Syrern auch deshalb so stark, weil sich die arabischen Staaten wieder an Assad annähern. Im Mai haben die arabischen Länder Syrien nach zwölf Jahren Ausschluss wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Noch sträubt sich der Westen, auf Assad zuzugehen, doch viele Syrer haben Sorge, dass sich das ändern könnte.
Schließlich wollen auch viele westliche Regierungen die syrischen Geflüchteten loswerden und ein Schulterschluss mit Assad könnte der erste Schritt dazu sein. Die Geflüchteten fürchten, dass Abschiebungen wie im Libanon bald die Norm werden könnten.
Die libanesische Armee stützt sich auf eine Regelung der Regierung, wonach Syrer, die nach April 2019 ohne Papiere eingereist sind, auch unter Zwang zurück nach Syrien gebracht werden können. Doch verstoßen die Abschiebungen gegen die UN-Konvention gegen Folter und gegen das Gebot der Nichtzurückweisung.
Der Grundsatz besagt, dass Menschen nicht in Länder zurückgeschickt werden dürfen, in denen ihnen Folter oder Verfolgung drohen. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass die Syrer genau das in ihrer Heimat erwartet.
"Lokale und internationale Organisationen dokumentieren weiterhin das grausame Vorgehen des syrischen Militärs und der Sicherheitskräfte gegen syrische Rückkehrer, darunter Kinder, wie rechtswidrige oder willkürliche Inhaftierungen, Folter und andere Misshandlungen, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sowie Verschwindenlassen“, schreibt Amnesty International in einem Bericht.
Wer sich in der syrischen Community im Libanon umhört, findet diese Vorwürfe bestätigt. Geflüchtete berichten davon, dass ihre Angehörigen nach der Ankunft in Syrien zum Militärdienst eingezogen oder vom Geheimdienst verhaftet wurden. Davon, dass sie in der Haft mit Elektroschocks gequält und geschlagen wurden. Andere sagen, von ihren Angehörigen fehle jede Spur.
Verschwunden in Syrien
Das berichtet etwa die 18-jährige Maryam, die ebenfalls anders heißt. Maryam ist 2014 mit ihren Eltern aus der syrischen Provinz Idlib in den Libanon geflohen. Im Libanon hat sie ihren heutigen Mann kennengelernt, der wie sie aus Idlib kommt. Vor wenigen Monaten stand plötzlich die libanesische Armee vor der Wohnung des Paares.
Es war drei Uhr morgens, als die Soldaten an Maryams Tür hämmerten. "Ich wusste nicht, was los war“, sagt Maryam. "Aber ich hatte panische Angst.“ Die Soldaten durchwühlten Maryams Kleidung und befahlen ihrem Mann, mitzukommen. Maryam sagt, die Soldaten hätten in jener Nacht alle syrischen Männer aus dem Wohnhaus mitgenommen, die Razzia habe bis zum Morgengrauen gedauert. Es hieß, die Soldaten würden die Männer nach Syrien bringen.
Maryam hat ihren Mann bis heute nicht wieder gesehen. "Er durfte sein Handy nicht mitnehmen“, sagt Maryam. "Ich habe seit dieser Nacht nicht einmal seine Stimme gehört.“ Maryam weiß nicht, wo ihr Mann ist. Sie sagt, sie habe kurz nach der Razzia einen Anruf erhalten. Die Stimme habe gesagt: "Dein Mann ist im Gefängnis in Syrien.“ Dann habe die Person aufgelegt. "Das ist alles, was ich weiß“, sagt Maryam.
Als ihr Mann verschwand, war Maryam im neunten Monat schwanger. Sie sagt, sie habe Mühe, das Baby allein durchzubringen. Ohne ihren Mann, der für die Familie sorgte, fehlt ihr das Einkommen.
Sie lebe wieder bei ihren Eltern, sagt sie, aber die kämpften selbst ums Überleben. Weil sie so gestresst sei, könne sie keine Milch produzieren und ihr fehle das Geld, um Milch für das Baby zu kaufen. "Mein Baby schreit vor Hunger“, sagt Maryam. "Aber ich kann ihm nichts geben.“ Sie betet, dass ihr Mann eines Tages zurück kommt. "Gott hilft mir, das alles durchzustehen.“
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