Transit zum Frieden
Die tägliche Routine für den 18-jährigen Ikbaly Ghul Muhammad ist das Wasserholen. Zweimal am Tag schleppt er vom Aryk, dem offenen Kanal im Hof, zwei Wassereimer in die dritte Etage eines maroden sowjetischen Plattenbaus. Fließendes Wasser gibt es nicht in der heruntergekommenen Zweizimmerwohnung, in der Ikbaly, seine Eltern und vier Geschwister wohnen.
Wenn Ikbaly die Eimer durch das schmutzige Treppenhaus balanciert, sind das die Momente, in denen er sich an sein altes Zuhause in Masar-i-Sharif erinnert: "In Afghanistan hatten wir einen eigenen Brunnen. Hier müssen wir das schmutzige Wasser trinken, auch wenn wir davon manchmal Magenprobleme bekommen."
Die Familie von Ikbaly ist im Februar dieses Jahres aus Masar-i-Sharif nach Wakhdat gekommen, einem Vorort der tadschikischen Haupstadt Duschanbe. In Afghanistan hatten Kriminelle die erste Frau von Ikbalys Vater und die jüngste Tochter ermordet. Zwar wurde der Mörder gefasst und zum Tode verurteilt, doch die Verwandten kauften ihn frei. Drei Jahre lang kämpfte der 45-jährige Muhammad Orif Ghul Muhammad, Ikbalys Vater, um eine erneute Verurteilung des Mörders – bis er selbst mit dem Tode bedroht wurde. Mit seiner zweiten Frau und den verbliebenen fünf Kindern floh er ins benachbarte Tadschikistan.
Restriktive Einreisebestimmungen
Obwohl Tadschikistan eines der ärmsten Länder der Erde ist, ist es für viele Afghanen ein attraktives Auswanderungsland – sicherer als das vom Bürgerkrieg geschüttelte Pakistan und weniger restriktiv als der Iran. Zudem sind Farsi und Tadschikisch dieselbe Sprache.
Seit zwei Jahren kommen deshalb immer häufiger afghanische Flüchtlinge nach Tadschikistan, vor allem aus Nord-Afghanistan, wo die Taliban an Einfluss gewinnen. Rund 4.500 afghanische Flüchtlinge waren im ersten Quartal dieses Jahres in Tadschikistan gemeldet. Doch die tadschikischen Behörden haben die Einreise von afghanischen Flüchtlingen durch Quoten geregelt, mehr als 1.700 pro Jahr dürfen nicht ins Land.
Abdul Rakhmon Fotekhon kam mit seiner Frau und fünf Kindern aus der Provinz Baghlan nach Tadschikistan. Bei den afghanischen Präsidentschaftswahlen im August 2009 hatte er als Wahlhelfer für die UNO gearbeitet. Er wurde von Aufständischen verschleppt, konnte nach zwei Monaten fliehen. Für Abdul Rakhmon war klar, er musste weg aus Afghanistan.
Verletzung des internationalen Rechts
In Tadschikistan hat den Familien das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR geholfen. Drei Monate lang bekommen Flüchtlinge etwa 70 Euro pro Person und Monat, danach sind es noch rund 30 Euro. Weil das zum Leben nicht reiche, würden viele der afghanischen Flüchtlinge illegal arbeiten, so Ilya Todorovic, UNHCR-Repräsentant in Tadschikistan. "Die Asylanten dürfen nicht arbeiten, solange sie auf ihre Registrierung warten – doch sie tun es trotzdem."
UNHCR-Chef Todorovic kritisiert den Umgang der tadschikischen Regierung mit den Afghanen, sie mache es ihnen nicht leicht, sich zu integrieren. Die Flüchtlinge müssen in ihnen zugewiesenen Städten wie Wakhdat wohnen. "Wenn sie sich weigern, verlieren sie ihren Status als Flüchtling", so Todorovic. "Das ist ganz klar eine Verletzung des internationalen Rechts."
Die Wohngegenden, die den afghanischen Flüchtlingen zugeteilt werden, haben im Vergleich zur Hauptstadt Duschanbe aber kaum Infrastruktur. Im Winter wird hier der Strom abgestellt, Wasser gibt es nur auf der Straße, warmes Wasser überhaupt nicht.
Die Bedingungen, unter denen sie in Tadschikistan leben, setzen den afghanischen Flüchtlingen zu. Weil das Land wie Afghanistan von Korruption beherrscht werde und es keine Arbeit gebe, sieht Ghul Muhammad für sich und seine Familie hier keine Zukunft. "Daraus könnten sich auch hier in Tadschikistan ernsthafte soziale Probleme entwickeln", schätzt Ghul Muhammad.
Er will deshalb so schnell wie möglich weg aus Tadschikistan, am liebsten weiter nach Europa wegen besserer Ausbildungsmöglichkeiten für seine Kinder. Auch die Fotekhons wollen nicht bleiben: "Ich verstehe, dass es in Deutschland, Italien oder Kanada schwierig wird, aber das sind entwickelte Länder, wo wir einfach besser leben könnten. Wir wollen, dass es unseren Kindern besser geht. Es wird sicher leichter sein, dort Arbeit zu finden."
Verzweifelte Flüchtlinge
Dass die afghanischen Flüchtlinge Tadschikistan nur als Transitland betrachten, nehmen ihnen die Tadschiken übel. Selbst die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation RCVC ("Refugee Children Vulnerable Citizens"), die sich im Auftrag von UNHCR um die afghanischen Asylanten kümmert, sind jedem Flüchtling gegenüber misstrauisch.
RCVC-Mitarbeiter Parwiz Shokhumorow fährt regelmäßig zu den Flüchtlingsfamilien. Etwa 30 Familien besucht er pro Monat, fragt Nachbarn, prüft, dass auch wirklich so viele Kinder im Haushalt leben, wie angegeben, dass die Männer vermeintlicher Witwen nicht wieder auftauchen, dass wirklich Hilfsbedarf besteht. Denn häufig würden er und seine Kollegen belogen, damit die Familien mehr bekämen, als ihnen zusteht.
"Die Flüchtlinge denken, mit Hilfe von UNHCR können sie kostenlos ausreisen", so Shokhumorow. "Sie halten die Hilfe für selbstverständlich und denken, sie müssten nicht arbeiten, die Organisation hilft ihnen schon. Aber selbst etwas zu versuchen, ihre Situation zu ändern, das kennen sie nicht."
Die Vorwürfe sind hart. Wenn Shokhumorow tatsächlich entdeckt, dass jemand von Verwandten unterstützt wird oder selbst Geld verdient und trotzdem die Hilfe in Anspruch nimmt, wird ihm die Unterstützung entzogen. Ilya Todorovic von UNHCR hat für die Afghanen dennoch Verständnis, es gehe ohnehin nur um 20 oder 30 Euro, mit denen man den Flüchtlingen helfen könne. Die meisten seien wirklich auf jede Unterstützung angewiesen.
"Das sind verzweifelte Menschen, sie haben schreckliche Dinge erlebt, wurden gefoltert, man hat ihre Kinder entführt", verteidigt Todorovic die Flüchtlinge aus Afghanistan. "Sie kommen her mit sehr wenig Geld, mit der Hoffnung auf ein neues Leben. Die Tadschiken haben es nicht leicht, ja – aber für die Flüchtlinge ist es noch schwieriger. Und verzweifelte Menschen finden nun mal extreme Wege, um zu überleben."
Edda Schlager
© Qantara.de 2010
Redaktion: Nimet Seker/Qantara
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