Der ewige Moslem

Die Abneigung gegen Muslime nimmt zu. Sie werden in Europa zunehmend als Eindringlinge wahrgenommen, gegen die man sich wehren muss. Dieses Muster ist nicht ganz neu, meint Stefan Buchen in seinem Essay.

Essay von Stefan Buchen

"Die Islamdebatte: Wo endet die Toleranz?", "Islam ausgrenzen, Muslime integrieren – kann das funktionieren?", "Beethoven oder Burka". Das sind drei mehr oder weniger kreative Überschriften, unter denen in deutschen Talkshows in jüngster Zeit über ein als heiß empfundenes Thema diskutiert wurde.

"Die Macht der Moschee", "Heiliger Krieg in Europa" und natürlich: "Deutschland schafft sich ab" sind drei Buchtitel, die sich mit demselben Thema befassen. Insgesamt geht die Zahl der Veröffentlichungen in die Tausende. Da fällt es naturgemäß schwer, sich immer neue Schlagzeilen auszudenken.

Bei ehrlicher Betrachtung passen all diese Sendungen, Bücher, Aufsätze, Blogs und Reden unter eine einzige Überschrift: "Die muslimische Frage". Das Thema hat sich gesteigert zur deutschen und westlichen Obsession des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Die Grundaussagen all dieser Publikationen sind überschaubar und lassen sich recht schnell zusammenfassen: Die muslimische Einwanderung nach Deutschland und Europa bedroht Sicherheit und Wohlstand. Muslime fügen sich nicht in unseren Staat und unsere Gesellschaft ein. Sie nutzen unsere Sozialsysteme aus. Sie bringen ein Wertesystem mit, das zu dem unseren in Widerspruch steht, und bilden deshalb "Parallelgesellschaften". Sie vermehren sich schnell, weil sich die Aufgaben der muslimischen Frau auf das Gebären beschränken. Der Islam ist essenziell und von Beginn an mit Gewalt verknüpft. "Und wenn man das alles zu Ende denkt", dann wird klar, was das Ziel dieses muslimischen Verhaltens ist: die Errichtung eines "weltweiten Kalifats".

Im Fahrwasser der Rechtspopulisten

Natürlich halten die Verfechter dieser Thesen eine Handlungsanweisung bereit. Auf die Frage "Was tun?" haben sie kurze klare Antworten: Die muslimische Einwanderung nach Europa und Deutschland muss gestoppt werden, komplett. Unkontrolliert und illegal Eingewanderte - im Fokus steht das Katastrophenjahr 2015 - müssen in möglichst großen Zahlen abgeschoben werden. Auf allen Ebenen der Politik, der Verwaltung und der Justiz muss den Muslimen klar gemacht werden, dass sie in Europa nicht willkommen sind.

Thilo Sarrazin stellt am 24.02.2014 in Berlin sein neues Buch "Der neue Tugendterror" vor; Foto: Maurizio Gambarini/dpa
Eine gewaltige Umstimmung findet statt in Deutschland. Muslimgegnerschaft als Motor: Der Ex-Bundesbanker und pensionierte SPD-Politiker Thilo Sarrazin hat die Bewegung inspiriert wie kein Zweiter. In diesem Sommer will Sarrazin nachlegen mit einem neuen Buch: "Feindliche Übernahme - wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht". Doch mit seinem alten Verlag Random House streitet Sarrazin sich inzwischen vor Gericht, der Verlag will das Buch nicht mehr publizieren.

Diese radikalen Ansichten sind in der deutschen Gesellschaft inzwischen weit verbreitet. Die "Alternative für Deutschland" und die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" sind die lautstarken Wortführer. Sie machen den Radau. Die AfD hat Landesparlamente und Bundestag zu Bühnen für die Auseinandersetzung mit der "muslimischen Frage" gemacht. Die extrem nationalistische Partei hat Erfolg.

Mehr als an steigenden Umfragewerten kann man ihn daran ablesen, dass alle anderen Parteien gewisse Ansichten und Forderungen der AfD übernehmen: von der CSU/CDU über FDP und SPD bis hin zu Grünen und Linken. Um den Aufstieg der nationalistischen AfD zu bremsen, machen sich die Etablierten ihrerseits nationalistische Positionen zu eigen, allen voran die regierenden Unionsparteien.

Eine gewaltige Umstimmung findet statt in Deutschland. Die Muslimgegnerschaft ist der Motor. Den problematischen Teil der Einwanderer macht ja die große Gruppe der Muslime aus ("die Nachkommen der vietnamesischen Arbeiter aus DDR-Zeiten sind kein Problem"), wie Thilo Sarrazin doziert. Der pensionierte SPD-Politiker hat die Bewegung inspiriert wie kein Zweiter. In diesem Sommer will Sarrazin nachlegen mit einem neuen Buch: "Feindliche Übernahme - wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht."

Inwiefern die nach Deutschland eingewanderten "Muslime" überhaupt ein soziales Kollektiv darstellen, ist eine berechtigte Frage. Viele Gründe sprechen dagegen. Aber darum geht es hier nicht. Ebenso wenig geht es an dieser Stelle um die Frage, welche Rolle "der Islam" spielt bei der Bildung gewaltbereiter "dschihadistischer" Gruppen und ihren mörderischen Aktivitäten. Zu beiden Fragen gibt es eine Menge zum Teil gut recherchierter Publikationen.

"Islamkritik" als kultureller Code

Hier geht es darum, dass im gegenwärtigen Deutschland die "Islamkritik" im Begriff ist, zu einem kulturellen Code zu werden, auf den sich immer weitere Kreise des deutschen Groß- und Kleinbürgertums verständigen, also die berühmte Mitte der Gesellschaft.

Wer sich von diesem Prozess ein Bild machen möchte, sollte einen Auftritt von Julia Klöckner in einer Talkshow über die "muslimische Frage" beobachten. Wenn das CDU-Präsidiumsmitglied mit der Rachel-Frisur aus dem amerikanischen Sitcom "Friends" die muslimische Männerdominanz erörtert, bekommt man eine Ahnung davon, wie eine konformistische Rebellion im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts aussehen könnte.

Alternativ kann man sich unter das "besitzende" Publikum einer Lesung von Thilo Sarrazin mischen. Oder Karten reservieren für die plumpe Theateradaptation des subtilen französischen Romans "Soumission" (Unterwerfung) im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Die geschmacklichen Variationen sind vielfältig, aber es wird stets derselbe "Nerv" getroffen. Und das Publikum häuft langsam aber sicher einen soliden Schatz islamkritischen Wissens an.

Es ist eine alte deutsche Obsession. Der Historiker Heinrich von Treitschke freute sich im Jahr 1879 über die "tiefe Umstimmung", die durch das deutsche Volk gehe. Eine Flut judenfeindlicher Schriften "überschwemmt den Büchermarkt", schrieb er in einem berühmten Aufsatz für die Preußischen Jahrbücher mit dem Titel "Unsere Aussichten". "Antisemitenvereine" träten zusammen, "in erregten Versammlungen" werde "die Judenfrage erörtert". Der Denker aus der Oberschicht des deutschen Kaiserreiches sah hier nicht "Pöbelroheit" am Werk, sondern bescheinigte "dem Instinkt der Massen", eine "schwere Gefahr" für das "deutsche Leben" erkannt zu haben.

Nicht genug damit, dass die Juden sich in Deutschland schon eingenistet hatten. Es kamen noch mehr von außen, "aus der polnischen Wiege", wie Treitschke schrieb. Sein Gesinnungsgenosse Otto Böckel verortete östlich der deutschen Reichsgrenze gar eine "große Vagina Judaeorum".

Salonfähiger Antisemitismus

Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts stand also vor der "jüdischen Frage". Juden drohten das Land zu zersetzen, Fäulnisprozesse auszulösen, auszusaugen, die Herrschaft an sich zu reißen. Sagen durfte man dagegen lange nichts. Die Juden beherrschten ja die Presse. Aber der Überlebensinstinkt der Deutschen erwachte und nahm den Kampf auf.

Antisemitische Karikatur aus dem Kaiserreich um 1900; Quelle: Geschichtsbuch "Zeiten und Menschen 1"
Das deutsche Bürgertum häufte "antisemitisches Wissen" an, wie es der Soziologe Jan Weyand formuliert. Gegen die Juden zu sein, gehörte schließlich zum guten Ton der bürgerlichen Gesellschaft. Der Antisemitismus wurde zum kulturellen Code, war Teil der "Bildung". Er war mit dem deutschen Nationalismus enger verbunden als es der Islam in den kühnsten Multi-Kulti-Träumen jemals mit Deutschland sein wird.

Der "Antisemitismus", die "Judengegnerschaft" waren positiv besetzte Begriffe. Diese Ansichten genossen den Segen der Sachlichkeit und der Wissenschaftlichkeit. Gelehrte leiteten das Wesen des "ewigen Juden" akribisch aus dem Talmud ab. Die Juden würden ihre rechtliche Gleichstellung, die Emanzipation, ausnutzen, um die Deutschen am Ende zu unterjochen und nach der Weltherrschaft zu greifen, wurde tausendfach gewarnt. Die "jüdische Frage" nährte sich aus der Gewissheit der Deutschen, Opfer einer Überwältigung zu werden, gegen die man sich wehren müsse.

Das deutsche Bürgertum häufte "antisemitisches Wissen" an, wie es der Soziologe Jan Weyand formuliert. Gegen die Juden zu sein, gehörte schließlich zum guten Ton der bürgerlichen Gesellschaft. Der Antisemitismus wurde zum kulturellen Code, war Teil der "Bildung". Er war mit dem deutschen Nationalismus enger verbunden als es der Islam in den kühnsten Multi-Kulti-Träumen jemals mit Deutschland sein wird.

Forscher wie Wolfgang Benz und Micha Brumlik haben bereits auf die Parallele zwischen dem deutschen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und der deutschen Islamkritik des frühen 21. Jahrhunderts hingewiesen. Es gebe strukturelle Gemeinsamkeiten. Viele Deutsche sind wieder von Überwältigungsszenarien besessen.

Wo führt das hin? Der Orientalist Paul de Lagarde, den Thomas Mann noch 1918 für einen der größten Deutschen hielt, meinte die Juden, als er 1887 schrieb: "Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet."

Wohin führt die Islamkritik?

Es ist unstrittig, dass der Holocaust ohne die langjährige gedankliche Vorbereitung nicht möglich gewesen wäre. Wohin wird die Islamkritik führen? Die muslimische Frage muss ja irgendwie gelöst werden. Man weiß, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Zumal die Geschichte jeden offenen Ruf nach "Vernichtung" unterbindet. Aber man weiß auch, dass, wo "der Kampf ums Dasein" voll entbrennt, die ganz sachlichen Begründungen und Legitimationen für den Massenmord nicht weit sind. Der innere gesellschaftliche Zusammenhalt verträgt keine weitere muslimische Zuwanderung, so das verbreitete Credo.

In den vergangenen Wochen sind schätzungsweise 1.000 Schutzsuchende im Mittelmeer ertrunken. Ein Aufklärungsflugzeug und mehrere Schiffe, die die Menschen gemeinsam hätten retten können, wurden vom europäischen Grenzschutz an ihrer Mission gehindert. Die Schuldfrage stellt sich nicht. Die überwältigende Mehrheit der europäischen Bürger ist ja von der Notwendigkeit dieses Vorgehens überzeugt.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2018

Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.