Erst ausgebeutet, dann ausgesetzt
Eine ältere Dame sitzt in ihrem von der Explosion zerstörten Wohnzimmer und spielt ein Lied auf dem Klavier. Die Kamera schwenkt langsam und wir sehen das Ausmaß der Zerstörung. Die kaputte, im Wohnzimmer liegende Balkontür, der teppichbedeckte Boden voller Schutt, das zerbrochene Glas der Innentüren und dahinter die afrikanische Hausangestellte, die dabei ist, aufzuräumen und zu putzen.
Das Video wurde über tausende Male in sozialen Medien geteilt und von internationalen Medien aufgegriffen. Menschen lieben es, wie die Libanesin die Katastrophe auf so einem positiven Weg zu verarbeiten scheint. Wie libanesische und andere Nutzer auf Instagram und Facebook jedoch hervorheben, wird dabei gerne die afrikanische Hausangestellte übersehen. Sie hat dasselbe Trauma durchgemacht wie die ältere Dame und die Familie, der sie dient. Sie hat jedoch keine Zeit, die Erfahrung zu verarbeiten. Wie ein Haushaltsgegenstand muss sie einfach nur funktionieren.
„Ausländische Haushaltsangestellte und Flüchtlinge bekommen gerade gar keine Aufmerksamkeit von der libanesischen Politik und Gesellschaft. Dabei werden es die Kafala-Arbeiter und die Syrer sein, die arbeiten und Beirut wiederaufbauen. Viele von denjenigen, die vor allem in privaten Häusern sauber machen, sind ausländische Arbeitskräfte, die nicht bezahlt werden“, sagt Dara Foi’elle, eine syrische Menschenrechtsaktivistin und Mitglied der Hilfsorganisation "Syrian Eyes".
Bereits vor der Explosion wurden viele ausländische Angestellte nicht oder nur unzureichend bezahlt. Die Wirtschaftskrise, die sich mit Beginn der Corona-Pandemie weiter verschlimmerte, hat das Land schwer getroffen. Die libanesische Währung, Lira, hat 70 Prozent ihres Wertes verloren. 50 Prozent der libanesischen Bevölkerung ist nun von Armut betroffen. Die Mittelklasse ist förmlich über die letzten Monate verschwunden. Die Arbeitslosenrate ist explodiert, genauso wie die Preise vieler wesentlicher Güter wie Nahrungsmittel und Benzin. Der Libanon steuert auf eine Hungersnot zu.
„Hausangestellte, die seit Monaten und in einigen Fällen seit Jahren nicht mehr bezahlt wurden, haben fast keine Hoffnung mehr, jemals an ihr Geld zu kommen. Sie räumen als Sklaven die Folgen der Explosion auf“, schreibt die Aktivistin Patricia (Pseudonym) von der Hilfsorganisation „This Is Lebanon“.
"Das sind Sklavenhalter, keine Arbeitgeber"
Bukola sitzt auf dem Boden des kleinen Zwei-Zimmer-Appartements in Beirut, das sie mit über 25 anderen Frauen teilt. Ihr gegenüber sitzen drei Ärzte in Schutzkleidung. Die 30-jährige Nigerianerin wurde von der Familie, bei der sie als Hausmädchen angestellt war, misshandelt und schließlich ohne Geld auf die Straße gesetzt. Sie kann nicht richtig laufen, spricht nicht und isst kaum etwas. Sie hat Fieber. Vier Tage lang lebte sie auf der Straße, bevor sie Unterschlupf in dem Appartement fand. Wegen fehlender Hygiene hat sie drei schmerzhafte, entzündete Abszesse.
Endlich kann sie von Ärzten, die sie kostenlos behandeln, medizinisch versorgt werden. Krankenhäuser und Privatpraxen hatten ihr die medizinische Behandlung verweigert. „Sie wurde nicht im Krankenhaus zugelassen, weil sie keinen Pass hat und offensichtlich auch, weil sie schwarz ist“, berichtet Dara Foi’elle.
Foi’elle betreut Bukola und etwa 40 andere Nigerianerinnen, die alle auf die Straße gesetzt wurden oder von ihren zumeist gewalttätigen Arbeitgebern weggerannt sind. „Am Mittwoch (05.08.) nach der Explosion waren es noch 20 Frauen, jetzt sind es 40.“
Auf engsten Raum ausharrend, warten die Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren darauf, endlich in ihre Heimat zurückkehren zu können. Die Rückkehr wird ihnen jedoch durch mehrere Faktoren erschwert. Zum einen fehlt ihnen das nötige Geld für ein Flugticket, zum anderen hat über die Hälfte gar keinen Pass. „Viele der Arbeitgeber, wenn man sie so überhaupt bezeichnen kann, meiner Meinung nach sind sie Sklavenhalter, haben die Pässe behalten,“ so Dara Foi’elle.Einige Arbeitgeber haben die Frauen zudem bei der Polizei wegen Diebstahl angezeigt. Das ist eine gängige Praxis, um ausstehende Gehälter und Rückflugtickets für die Angestellte nicht zahlen zu müssen und sich von jedweder Verantwortung ihr gegenüber freizumachen. Nun scheint diese Taktik auch noch einem anderen Zweck zu dienen: „Eine der Madams hat geschrieben: Du hast einen Föhn geklaut, wenn du ihn zurückgibst, dann bekommst du deinen Pass. Aber das ist nur ein Trick, damit die Arbeitskraft zurückkommt und sie sie einsperren können“, meint Foi’elle.
Ein weiteres Problem erschwert es ausländischen Angestellten wie den Nigerianerinnen, Libanon zu verlassen. Sobald sie ihre Arbeitsstelle verlassen oder rausgeschmissen werden, befinden sich die Frauen illegal im Libanon. Denn durch das Kafala-System sind sie an ihre Sponsoren gebunden, egal, ob diese sie bezahlen oder nicht. „Kafala“ bedeutet Sponsoring auf Arabisch.
Das Kafala-System bindet den Arbeitnehmer gesetzlich vollständig an den libanesischen „Kafil“ (deutsch Sponsor), also den Arbeitgeber. Die Arbeitnehmer, meist Frauen, sind ihrem Sponsor vollständig ausgeliefert. Sie fallen nicht unter das libanesische Arbeitsrecht und haben keinerlei persönliche Rechte und Freiheiten. Ohne die schriftliche Erlaubnis des Kafils dürfen sie selbst nach Beendigung ihres Arbeitsvertrages das Land nicht verlassen. Sobald sich die Arbeitnehmerin aus dem Haushalt des Kafils entfernt, wenn auch gegen ihren Willen, hält sie sich illegal im Land auf und kann jederzeit verhaftet werden.
Ohne gültige Ausreiseerlaubnis dürfen die Frauen das Land nicht verlassen. Diese Genehmigung wird jedoch nur von der Lebanese General Security, einer Behörde des Außenministeriums, ausgestellt. Das Gebäude des Außenministeriums ist derzeit jedoch von Demonstranten besetzt. Die Regierung von Premierminister Hassan Diab ist zudem am Montag (10.08.) zurückgetreten. Ohne funktionierende Regierung ist es fraglich, wann überhaupt Ausreiseerlaubnisse ausgestellt werden.
„Die Selbstmordrate steigt“
Viele der im Libanon festsitzenden Arbeitsmigrantinnen teilen Bukolas Schicksal. Bereits vor der Explosion im Hafen von Beirut wurden Hunderte mit ihren Koffern vor ihren jeweiligen Botschaften ausgesetzt. Wenn sie nicht auf die Straße gesetzt wurden, dann befinden sie sich in Zwangsarbeit. „Hausangestellte im Libanon wurden ihren Sklavenhaltern überlassen. Die Selbstmordrate steigt“, sagt „Patricia“ von „This Is Lebanon“.
Bereits vor der Corona-Krise starben im Libanon nach offiziellen Aussagen des Geheimdienstes von Lebanese General Security zwei Arbeitsmigrantinnen pro Woche. Häufigste Todesursache: Suizid. Nichtregierungsorganisationen und Anti-Kafala Aktivisten vermuten hinter einigen der offiziell als Suizid ausgewiesenen Todesfälle jedoch Mord. Zudem sei die Zahl der Todesfälle wesentlich höher als angegeben. Stirbt eine Hausangestellte, gibt es laut „This Is Lebanon“ keine richtige polizeiliche Untersuchung. Das Wort des libanesischen Arbeitgebers gilt.
In den vergangenen Monaten gab es zudem mehrere Vorfälle, bei denen Libanesen versucht haben, über Online-Inserate und Posts in den sozialen Medien ihre Hausangestellten zu verkaufen. In einem Post vom April stand auf Arabisch „1000 US-Dollar. Afrikanische Hausangestellte zum Verkauf (Nigerianerin) mit neuer Aufenthaltserlaubnis und gültigen Papieren. 30 Jahre alt. Aktiv und sehr sauber.“
Holt eure Staatsbürger nach Hause!
Nach der Explosion im Hafen Beiruts am 04. August, bei der über 200 Menschen starben, über 6000 verletzt und 300.000 Menschen obdachlos wurden, ist zu erwarten, dass sich die Lage der ausländischen Arbeitskräfte weiter verschlechtert. Hilfsorganisationen und Aktivisten rufen die Regierungen dazu auf, umgehend und unbürokratisch ihre Staatsbürger nach Hause zu holen.
Die meisten Botschaften bieten den Arbeitsmigrantinnen jedoch nach wie vor keine Unterstützung. Wie „This Is Lebanon“ berichtet, hat die kenianische Botschaft Polizeikräfte vor ihren Türen postiert, damit die Bürger ihres eigenen Landes nicht bei ihnen Schutz suchen können. Dies passierte kurz nachdem ein investigativer Report von CNN der Botschaft Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen hatte.
Andere Vertretungen wie zum Beispiel die äthiopische Botschaft verlangen horrende Summen für Flugtickets. Verschiedene Hilfsorganisationen wie „Egna Legna Besidet“, „Anti-Racism Movement“ und „This Is Lebanon“ sowie private Aktivisten versuchen Gelder aufzutreiben und unterstützen die Frauen darin, möglichst schnell in ihre Heimatländer zurückzukehren.
Einige Migrantinnen sind kreativ geworden. Eine Gruppe von Arbeiterinnen aus Sierra Leone hat die Band Thewanthdean (Eine Schwesternschaft) gegründet und den Song „Bye and Bye“ aufgenommen. In dem Lied erzählen die Frauen ihren fiktiven Enkeln von ihrem harten Leben und den Misshandlungen, die sie im Libanon erfahren haben. Sie versuchen, auf diesem Weg auf ihre Situation aufmerksam zu machen und das nötige Geld zum Überleben und für die Flugtickets zu sammeln.
Aktivisten fordern die Abschaffung des Kafala-Systems
Seit einem Jahrzehnt fordern libanesische und internationale Organisationen und Aktivisten die Abschaffung des diskriminierenden Kafala-Systems. Der Arbeitsminister Camille Abousleiman hatte 2019 öffentlich anerkannt, dass das Kafala-System eine Form der modernen Sklaverei sei. Jedoch sah er dies nicht als ausreichenden Grund dafür an, um Kafala abzuschaffen.
Die größere Medienberichtserstattung durch das Schicksal der vor den Botschaften ausgesetzten Frauen gibt nun Anlass für die Hoffnung, dass es internationalen Druck auf die libanesische Regierung gibt, sich dieser Migrantinnen anzunehmen.
Einen anderen Weg die Abschaffung des Kafala-Systems zu erreichen, sieht der Nepalese Dipendra Upreti, Mitbegründer von „This Is Lebanon“, und selbst ehemaliger Arbeiter im Libanon, in der finanziellen Krise, in der sich das Land befindet: „Der Libanon erwartet in der Krise internationale humanitäre Hilfe. Sie sollte nur unter der Bedingung gewährt werden, dass Libanon das Kafala-System abschafft, die Rechte von Arbeitsmigranten gewährleistet und alle Menschen als gleich ansieht. Sonst gibt es keine Hoffnung.“
Sandra Wolf