Das Schweigen der Besatzer
Ein Jahr und zwei Monate hatte Nadav Weiman trainiert, um in eine Spezialeinheit seiner Armee zu kommen. Mit 18 Jahren hatte er in Camps gelernt, wie man Panzer bedient, Menschen durchsucht, in Häuser eindringt und aus dem Hinterhalt einen Terroristen ausschaltet. In Israel herrscht für alle eine dreijährige Wehrpflicht. Wer sich weigert, wird verhaftet.
Auf die Theorie folgte bald die Praxis: Weimans erster Einsatz war in einer zwölf Mann starken Scharfschützen-Truppe. Jenin, Westjordanland, eines der heißesten Pflaster im Nahostkonflikt. "Plötzlich war ich in der Hölle", sagt Weiman.
Sein Team bekam die Anweisung, ein palästinensisches Wohnhaus zu finden und es zu einem Posten der "Israeli Defence Forces" (IDF) zu machen – eine gängige Aufgabe, die Weiman bald drei- bis viermal in der Woche durchführen sollte. Der Ablauf ist Routine: Zuerst wird beim Geheimdienst angefragt, ob sich in dem Haus Terroristen aufhalten. Nur wenn sicher ist, dass die Familie unschuldig ist, wird das Haus gestürmt.
"Es ist wie ein großes Videospiel", sagt Weiman. Alles geht sehr schnell. Im Tarnanzug und mit der Waffe in der Hand stand er plötzlich im Wohnzimmer einer fremden Familie. "Mein erster Gedanke in diesem Moment war: Das heißt also nun, mein Land zu verteidigen?"
Die arglosen Menschen werden aus den Betten geholt, ihre Handys konfisziert. Sie müssen das Haus verlassen, von dem die israelische Armee nun auf Terrorverdächtige schießen will.
Die Menschen sollen Fragen stellen
Nadav Weiman ist heute 26 Jahre alt. Seit einem Jahr ist er Mitglied der Organisation "Breaking the Silence", die im März 2004 von ehemaligen Soldaten der israelischen Armee gegründet wurde. Ziel von "Breaking the Silence" ist, die israelische Öffentlichkeit auf Grundlage von den Zeugenaussagen hunderter Soldaten über den Besatzungsalltag in ihrem Land aufzuklären. So soll die große Kluft in Israel zwischen der Wahrnehmung und Realität seiner Armee überwunden werden.
"Breaking the Silence" spricht von einem "moralischen Zerfall" der in den letzten Jahren alle Bereiche der Armee sowie der israelischen Gesellschaft durchdrungen habe. Ungerechtigkeiten und Schikanen, die früher noch die Ausnahme waren, sind zur Norm geworden. "Während wir uns vor Gefahren schützen, schaffen wir eine weitere Katastrophe" kann man in der Selbstdarstellung von "Breaking the Silence" lesen.
"Keiner in Israel weiß, was wirklich passiert. Wir wollen die Menschen dazu bringen, Fragen zu stellen", sagt Weiman. Dafür organisiert "Breaking the Silence" zum Beispiel Vorträge an Unis und Stadtführungen in den palästinensischen Gebieten.
Die Ausstellung "Breaking the Silence", die für zwei Wochen im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen ist, zeigt den Alltag der Besatzung auf Fotos die von den Soldaten selbst aufgenommen wurden. Weiman gehört zu den Mitgliedern der NGO und führt noch bis zum 29. September durch die Ausstellung. Zusammen mit anderen Ex-Soldaten berichtet er den Besuchern von seinen Erfahrungen. Weiman hält seine Gruppe an den Bildern an die ihm besonders am Herzen liegen.
Eines zeigt eine Gruppe von palästinensischen Kindern, die in der Straße Szenen einer Checkpoint-Kontrolle nachspielen. Neben ihnen patrouilliert lachend ein israelischer Soldat. "Ich habe in meiner Kindheit Cowboy gespielt. Diese Kinder spielen Verhaften", sagt Weiman den Zuhörenden. Manchmal fährt er sich mit der Hand durch die Haare. Die Realität dieser Kinder ist von Anfang an durch die Besatzung geprägt.
"Wir können alles machen"
In der Ausstellung gibt es eine lange Wandleiste an der dutzende Schlüsselbunde baumeln. Es sind Schlüssel, die Soldaten innerhalb eines Monats an einem Checkpoint von Palästinensern einkassiert haben. Der Grund dafür ist oft reine Willkür: Vielleicht ist jemand zu schnell gefahren, vielleicht war der Soldat nur gereizt.
Für Weiman enthält ein Schlüsselbund mehr als nur den Schlüssel zu Auto und Büro, zum Haus oder zum Haus der Großmutter. "Man beschlagnahmt nicht nur die Schlüssel einer Person, sondern auch ihre Rechte", sagt Weiman. Die Schlüssel seien ein Symbol dafür wie weit die israelische Arme ins Leben der Palästinenser eingreift. "Wir können alles machen."
Dann sind da noch die Fotos von Soldaten die sich an Checkpoints mit gefangenen Palästinensern ablichten lassen haben. Die Gefangenen tragen Augenbinden und werden von lächelnden und posierenden Soldaten als Trophäen in Szene gesetzt.
Die Bilder stammen aus dem Jahr 2004. Erst 2010 war in Israel ein Fall öffentlich geworden, in dem eine Soldatin bei Facebook Bilder von sich mit Gefangenen hochgeladen hatte. Für Weiman ist das keine Ausnahme, sondern eine gängige Praxis unter jungen Wehrdienstleistenden. "Doch es ist für Israel angenehmer, das als Einzelfall abzutun", sagt er.
Zwischen Befehlen und Moralempfinden
Für viele junge Israelis ist der Armeedienst gleichbedeutend mit dem Erreichen der Männlichkeit – ein Initiationsritus mit Waffe. In Nadav Weimans Fall waren es Freunde und Familie die seinen Militärdienst erwarteten. Schon Vater und Großvater waren Offiziere, der Bruder ist es noch. "In Israel definiert der Militärdienst, wer du bist. Er bestimmt über deine Chancen im Leben", sagt Weiman. Er wusste, dass er als Mitglied einer Spezialtruppe später höhere Berufschancen haben würde.
Doch nach der ersten Hausräumung in Jenin entstand dieses unwohle Gefühl in Weimans Kopf. Zwischen Befehlen und Moralempfinden pendelnd, dauerte es eine Weile, bis er mit den Kameraden über seine Gefühle sprach. Die nannten ihn wegen seiner kritischen Haltung den "linken Typen". Aber es wurde auch diskutiert, nach jedem Einsatz. "Bei einem Kaffee ließen wir im Team den Einsatz Revue passieren und fragten uns dann, was wir beim nächsten Einsatz anders machen würden", erzählt Weiman.
In der Einheit wusste man von Weimans Gewissensbissen. Deshalb wurde er in der Gruppe als Späher eingesetzt. Den Abzug drückte ein anderer.
Klar erinnert sich der 26-jährige an eine Winternacht im Jahr 2006. Es war eine von Weimans ersten Operationen. Weiman erspähte auf einem Dach in 520 Metern Entfernung einen Mann mit einem Funkgerät in der Hand. In den Augen der IDF war er eine potenzielle Gefährdung. Also kam der Befehl: Erschießt ihn! "Du schaust auf den letzten Moment im Leben dieses Mannes. Es ist eine Sache von wenigen Sekunden. Du siehst einen kleinen Punkt fallen. Das war's", sagt Weiman. Und fügt hinzu: "Wir waren so jung."
Als Weiman nach dem Einsatz in die Basis zurückkehrte, wurden er und seine Teamkollegen wie Helden gefeiert: Ihr habt einen Terroristen getötet! Doch für Weiman war dieser Punkt in der Ferne kein Terrorist. Von dieser Nacht an mehrten sich bei ihm die Fragen.
Später, als Weiman und seine Kameraden bei einem anderen Einsatz in eine ähnliche Situation kamen, schossen sie daneben. Diesmal stand ein Verdächtiger mit seinen Kindern und hielt ein Funkgerät. Die Soldaten trafen die Wand, der Mann konnte flüchten. Er konnte nicht ahnen, dass die Soldaten ihm gerade das Leben gerettet hatten. Sonst hätte ein anderes Team ihn erschossen.
Das Schweigen brechen
Nach dem Wehrdienst landen viele Israelis in Indien, kiffen gegen die Erinnerung an. Nadav Weiman trampte durch Südamerika. Der frisch entlassene Soldat traf dort auf andere Ausländer. "Die Europäer stellten mir viele Fragen. Die Amerikaner waren stolz auf mich", sagt Weiman. Heute ist er Hebräisch- und Geschichtslehrer in seiner Heimatstadt Tel Aviv. Er versuche einen Eindruck auf die Kinder zu hinterlassen, meint er, um etwas zu ändern.
"Breaking the Silence" ist in Israel die einzige Einrichtung, die ehemaligen Soldaten die Verarbeitung und Aussprache ihrer Erlebnisse ermöglicht. Damit sind nicht alle glücklich. Israels Hardliner-Außenminister Avigdor Lieberman sieht die Mitglieder von "Breaking the Silence" als "Unterstützer des Terrorismus".
Auch Weimans Kameraden waren erst mal kritisch eingestellt, was sein Engagement betrifft. Weiman weiß, dass er sich mit seinem Aktivismus auch in Gefahr begeben kann, zumal unter der aktuellen Regierung, die als eine der starrköpfigsten im Nahostkonflikt gilt.
Aber es gebe in der jungen Generation auch kritische Stimmen, die sich jedoch oft versteckten. Als vor einigen Monaten Tel Avivs Straßen von Sozialprotesten erfüllt waren, stellten viele sich die Frage: Könnten die Unsummen, die für die Besatzung ausgegeben werden, nicht auch für mehr soziale Gerechtigkeit im Land eingesetzt werden? Doch keiner traute sich, das so offen zu sagen. Um dieses Schweigen zu brechen, ist Nadav Weiman bei "Breaking the Silence" eingetreten.
Marian Brehmer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de