Gratwanderung zwischen Härte und Vernunft
Die Türkei ist erneut Schauplatz des blutigen Terrors eines Flügels der militanten kurdischen Separatistenorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Es sind menschenverachtende Gewaltaktionen mit angeblich politisch motivierten Zielen:
Wieder einmal soll die Freilassung des vor mehr als sieben Jahren verhafteten und auf einer Gefängnisinsel im Marmarameer bei Istanbul internierten PKK-Führer Abdullah Öcalan erzwungen werden. Das zumindest verlangen die Bombenleger von Istanbul, Marmaris und Antalya in ihren Bekennerschreiben.
Die Opfer sind unschuldige Einheimische und arglose ausländische Touristen. Die Wahl der Anschlagsorte zeigt, dass die Bombenleger vor allem die ökonomisch wichtige, aber sehr empfindliche Tourismusbranche treffen wollten. 20 Millionen Urlaubsgäste aus dem Ausland waren im vergangenen Jahr der größte Devisenbringer für den türkischen Staat.
Nach dem Karikaturenstreit, dem Ausbruch neuer Gewalt in Nahost und der Vogelgrippe mussten in diesem Jahr bereits schwere Rückschläge in der Region verkraftet werden.
Jetzt, nach den jüngsten Explosionen, ist ein noch größerer Schaden zu befürchten. Denn die Touristen werden sich aus Furcht künftig andere Urlaubsziele suchen. Wut und der Ruf nach staatlicher Gegengewalt sind insofern nachvollziehbare Reaktionen in der Türkei auf die zynischen Anschläge.
Damit wird wieder einmal deutlich, dass es keinen Unterschied zwischen den kurdischen Bombenlegern und den islamistischen Selbstmordattentätern gibt, die die Welt in Atem halten.
Sie alle verfolgen die gleiche Taktik, um ihre angeblich politischen Ziele durchzusetzen: Verunsicherung der Öffentlichkeit, Schüren von Panik, Polarisieren der Gesellschaft, das Anrichten von wirtschaftlichem Schaden und – nicht zuletzt – die Schwächung von Demokratie und Rechtsstaat.
Diese Saat der Terroristen darf nicht aufgehen – in der Türkei ebenso wenig wie anderswo. Deswegen muss der türkische Staat auf die aktuelle terroristische Herausforderung mit Besonnenheit reagieren.
Das Scheren aller Kurden über einen Kamm, die wahllos angewandte militärische Gewalt in den kurdischen Siedlungsgebieten oder polizeiliches sowie juristisches Vorgehen gegen anders denkende Intellektuelle haben bislang nichts gebracht und werden auch in Zukunft nichts bringen.
Eine Republik, die zur Union der Demokratien Europas aufschließen möchte, muss auch tolerant gegenüber kritischen Stimmen im eigenen Land sein. Sie darf sich nicht zu unüberlegten Handlungen zur Beruhigung der Volksseele hinreißen lassen.
Vielmehr muss sich die Türkei der Herausforderung ihrer Gratwanderung zwischen Härte gegen Terroristen und staatlicher Vernunft bewusst sein. Die auch in Deutschland verbotene PKK und ihre Splittergruppen müssen einerseits die volle Härte des Rechtsstaates zu spüren bekommen, den die Festnahme und Verurteilung von Straftätern durch ordentliche Gerichte auszeichnet.
Andererseits aber müssen dringend fällige Reformen in den entlegenen, politisch ebenso wie wirtschaftlich und sozial vernachlässigten Regionen Anatoliens erarbeitet und umgesetzt werden.
Das setzt vor allem das Aufbrechen der feudalen Strukturen voraus, damit kurdische Großgrundbesitzer nicht mehr die Legislative, die Judikative und die Exekutive ersetzen und Tausende mittellose Kurden wie Leibeigene ausbeuten.
Terroristen rekrutieren überall in der Welt ihren Nachwuchs aus den Massen junger Menschen ohne Hoffnung auf Ausbildung, Arbeit und Zukunft. Davon gibt es auch in der Türkei noch zu viele.
Die Arbeitslosigkeit von bis zu 70 Prozent in den überwiegend von Kurden bevölkerten Provinzen Anatoliens produziert die Menschen, die ihr Heil in den Reihen der Untergrundorganisationen suchen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und der staatlichen Gewalt irreparabel zerstört ist.
Baha Güngör
© DEUTSCHE WELLE 2006
Qantara.de
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