"Die Türkei auf dem Weg nach Europa"
Der Journalist Jürgen Gottschlich lebt seit 1998 als Korrespondent in der Türkei. In seinem neuen Buch "Die Türkei auf dem Weg nach Europa" dokumentiert er die Veränderungen in der türkischen Gesellschaft anhand ausgewählter Biographien. Von Amin Farzanefar
Die Debatte über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei scheint zu einem Stellungskrieg zwischen Befürwortern und Gegnern zu verkommen: altbekannte Argumente werden zu immer neuen Arrangements zusammengestellt, die weniger auf inhaltliche Komplexität, als vielmehr auf politische Wirkung zielen.
Jürgen Gottschlich mag hier mit "Die Türkei auf dem Weg nach Europa" neue Impulse geben. Er war 1979 einer der Gründerväter der taz und schreibt seit über zwanzig Jahren Reportagen über die Türkei.
Auch in seinem neuen Buch verzichtet er auf abstrakte Überfremdungs- und Islamängste. Er taucht direkt in die türkische Gesellschaft ein und birgt dort Porträts und Lebensgeschichten, über die er eine Vielzahl der prekären Themen vermittelt: Wirtschaftskrise, Menschen-, Minderheiten- und Frauenrechte, Islamismus auf dem Prüfstand etc.
Machtfragen und Wirtschaftsinteressen
Gottschlich beginnt mit einem Gang in die Geschichte: er stellt den flüchtigen Sultansbruders Cem vor, der während seiner Odyssee durch Spanien, Frankreich und Italien von wechselnden Fraktionen mal als Geisel, mal als künftiger Herrscher gehandelt wurde.
Diese Biographie zeigt, dass der in die Geschichte hineingelesene Gegensatz zwischen Islam und Christentum - ein Hauptstolperstein für die EU-Aufnahme - eben nur eine Rückprojektion ist.
Wichtiger als alle Kreuzzugsgelüste waren schon damals Machtfragen und Wirtschaftsinteressen. Auch die Osmanen gingen immer wieder neue Bündnisse mit verschiedenen europäischen Mächten ein.
Türkischer Automobilclub rettet Teile der Altstadt
Zur jüngeren Geschichte leitet Gottschlich mit der Biografie von Celik Gülersoy, dem 2003 verstorbenen, vormaligen Präsidenten des türkischen Automobilclubs, über.
Während der ADAC Ende der 60er Jahre für die Auslands-Versicherung von Urlaubsfahrten türkischer Gastarbeiter 1000 DM verlangte, bot Gülersoy die gleiche Versicherung für nur 50 DM an.
Die gewaltigen Gewinne investierte er in die Restaurierung verkommener Parkanlagen, alter Häuserfassaden und anderer heruntergekommener, denkmalgeschützter Wahrzeichen der Stadt.
Als 1994 der Populist Tayyip Erdogan Bürgermeister wurde, fand Gülersoy sich auf der Anklagebank wieder: Der neue "Bürgermeister der Armen" bezeichnete ihn als kemalistischen, westlich orientierten Kapitalisten, der seine gierige Hand auf öffentliches Eigentum legt.
Dem Verein wurde die Gemeinnützigkeit abgesprochen, und Gülersoy verlor einen Großteil seiner Objekte. Doch er bleibt der Retter des alten Istanbul, das ohne sein Wirken - und von der öffentlichen Hand unbeachtet - weiter verrottet wäre.
Erdogan – eine facettenreiche Biographie
Das nächste Kapitel zeigt den amtierenden Ministerpräsidenten Erdogan von einer ganz anderen Seite: als Mensch der Taten, der Zug um Zug jene Tabuthemen und Erblasten aufarbeitet, an denen sich die vorigen Regierungen und Regime bislang die Zähne ausbissen: Pressefreiheit, Todesstrafe, Kurdenfrage und Zypernkonflikt, um nur einige zu nennen.
Was für eine Biografie: Nachdem er eine viel versprechende Laufbahn als Fußballprofi (für den Verein "Fenerbahce") ausschlug, erlebte Erdogan eine steile Karriere unter dem späteren Präsidenten Necmettin Erbakan. Erbakans islamistische Rhetorik ließ er jedoch bald hinter sich.
Nachdem Erdogan 1997 wegen Volksverhetzung eingesperrt wurde, (was in der Türkei schnell passieren konnte,)wandelte er sich im neuen Amt aus reinem Pragmatismus zum Reformer von fast atatürkschem Format.
Ein Land im Hausputz
Auch die weiteren Kapitel erzählen Aufstiegs- und Erfolgsgeschichten und zeigen ein Land mitten im Hausputz:
Eren Keskin, die Menschen- und Frauenrechtlerin, setzt sich für eine Novelle des Zivil- und Strafrechtes ein, damit die archaischen Ehrenmorde in Zukunft härter bestraft werden.
Zugleich aber bezeichnet sie das Kopftuchverbot an öffentlichen Einrichtungen als undemokratisch und macht sich auch hier stark.
Dann Senol Ince: Der "integrierte" Berliner und deutsch-türkische Unternehmer will mit dem Ertrag steigernden Bio-Dünger "Biohumin" eine Million Hektar Wald in Zentralanatolien wieder aufforsten.
Die Behörden fördern sein Projekt, weil es im Sinne des Kyoto-Protokolls den CO2-Abbau fördert, und weil Ince ausländisches Firmenkapital einbinden konnte.
Prinzipiell begrüßt Ince die Wirtschaftspolitik der AKP-Partei, die nach dem Zusammenbruch des türkischen Marktes 2001 eine Neuverschuldung und vor allem eine neuerliche Inflation verhinderte, indem sie nicht bei jedem Finanzloch sofort die Druckerpresse anwarf.
Kapitalismus als Entwicklungsmotor
Wie Kapitalismus als Entwicklungsmotor fungiert, zeigt Gottschlich auch, wenn er Selim Ensarioglu vorstellt. Er ist einer jener kurdischen Patriarchen, der wie ein Fossil der alten Zeit wirkt, aber die Entwicklung des "Wilden Ostens2 aktiv mitgestaltet.
Die Einwohnerzahl der Provinz-Metropole Diyarbekirs stieg nach dem Bürgerkrieg, der 35.000 Menschenleben forderte, aufgrund der Flüchtlingsströme von 500.000 auf 1,5 Millionen Einwohner an. Diese Verstädterung bewirkte die Herausbildung einer neuen Mittelschicht.
Im Umland sind die alten PKK-Strukturen, die den alten Feudalismus nur in ein hierarchisches Kaderdenken überführten, noch existent, aber machtlos: Rebellion und Separatismus als Zukunftsperspektive wurden durch Wohlstandsutopien ersetzt.
Man erhofft sich lediglich gute Handelsbeziehungen zu den "autonomen" Kurden Nordiraks, und auch die Wiederannäherung an Syrien verspricht vor allem den Ausbau neuer Handelszentren.
Trotz mancherlei Restriktionen erweist sich die neue Regierung im Umgang mit dem Tabu beladenen Kurdenthema flexibler als all ihre Vorgänger. Momentan fördert sie Pläne für die Rücksiedlung von drei Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen.
Differenzierter Blick
Die regierende AKP-Partei und ihr Polit-Star Tayyip Erdogan ziehen sich als Leitmotive durch Gottschlichs Buch. Dass sie immer wieder in neuem Licht erscheinen, zeugt von der Komplexität der türkischen Verhältnisse, wie auch vom differenzierten Blick des Autors.
Die flüssig, kompetent und engagiert geschriebenen Reportagen zeigen Facetten eines Landes im Aufbruch, die sich der Leser selbst zusammensetzen mag. Jürgen Gottschlich meidet die Gefahr im Kern nahe liegendes als fremd zu bezeichnen, um dann darüber letztgültig zu urteilen.
Amin Farzanefar
© Qantara.de 2004
Jürgen Gottschlich: "Die Türkei auf dem Weg nach Europa", Ch. Links-Verlag, Berlin, Juli 2004, ISBN: 3-86153-330-8; 184 Seiten, 36 Abbildungen