Heilbronn-Blues
Eine Fußballkarriere kann schnell zu Ende sein. Kemal hat Pech, er ist erst einundzwanzig, aufstrebender Profispieler in der türkischen Liga für Gaziantep, als er sich bei einem selbstverschuldeten Autounfall eine irreparable Knieverletzung zuzieht.
Das bedeutet für ihn: Rückkehr nach Deutschland, ins kleine, wenig beschauliche Heilbronn, genauer in den Problemkiez „Hawaii“ am Stadtrand, wo seine Eltern wohnen und wo er zur Schule ging, bis ihn die Scouts von der Straße weg für den Club entdeckten.
Um seinen persönlichen Rückschlag zu verarbeiten, läuft Kemal erst einmal tagelang durch die Stadt, verabredet sich mit Freunden in Clubs, Striplokalen und Wettbüros, macht sich auf die Suche nach seiner Ex-Freundin, die er immer noch anbetet, und geht zwischendurch heimlich in die Parkgarage, wo sein Jaguar abgestellt ist, der seit dem Unfall fahruntüchtig ist und mit dem Kemal aus Mitleid und schlechtem Gewissen Dialoge führt. Von dieser knappen Woche handelt der Roman.
Durch seine Vorgeschichte ist Kemal gewissermaßen unfreiwillig ein Stück gereift. Er ist mit der großen Welt bereits in Berührung gekommen und eigentlich nicht mehr verführbar durch das provinzielle Parteiengezänk und die Machtspiele auf den Straßen Heilbronns.
Dennoch wird er von seinen Kumpels hineingezogen in zwielichtige Machenschaften, lässt sich zu betrügerischen Fußballwetten verleiten, die ihn endgültig ruinieren. Er sucht Hilfe bei seinen Eltern, die vor allem wollen, dass er Arbeit findet, und leiht sich Geld bei einem Onkel, ohne einen Plan für die Zukunft zu haben.
Er fühlt sich zwar noch manchmal heimisch, atmet den vertrauten Knorr-Suppen-Geruch, der vom Hauptsitz der Suppenfabrik herüberweht und ganz Heilbronn einhüllt; doch sowohl in beruflicher als auch persönlicher Hinsicht scheint ihm die Stadt keine Perspektive mehr zu bieten.
Ein Held wie aus „Der Fänger im Roggen“
Wie einen modernen Holden Caulfield aus dem Klassiker „Der Fänger im Roggen“ lässt Acar seinen grundsympathischen, wenngleich oft fehlgeleiteten Helden über die Welt philosophieren und dabei zu Erkenntnissen auch über sich selbst gelangen.
„Aber ich bin nicht falsch“, sagt er, als er sich mit den ‚falschen Freunden‘ seiner geliebten Sina vergleicht, „ich bin manchmal nur dumm, das ist ein Unterschied.“ Dass er Sina nicht vergessen kann, die als Tochter eines reichen Architekten ein Drohnendasein im eigenen Häuschen genießt, zeigt ihn als sensiblen Menschen mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.
Kemal besitzt eine ähnliche Sturheit wie sein Pendant Holden, mit dem er übrigens auch den Jugendslang teilt, der den Roman noch lesbarer und lebensechter macht.
Doch dem Autor geht es nicht allein um Kemals schwierigen Lebensweg. „Hawaii“, jenes Problemviertel mit den heruntergekommenen Häusern, dem öden S-Bahngelände, den kleinen Geschäften und maroden Shoppinghäusern, wird im Roman so detailliert und ortskundig beschrieben, dass der Text nahezu als Straßenatlas für diesen Teil Heilbronns dienen könnte. Bizarr, dass ausgerechnet der sozial belastete Stadtteil einen von Fernweh und Sonne kündenden Namen trägt. Doch die bittere Pointe, die im Namen „Hawaii“ anklingt, wird im Roman gewissermaßen verlängert.
Spannungen zwischen verfeindeten Milieus
Aus dem Brodeln und unheimlichen Rumoren der täglichen Reibereien zwischen den „Kankas“ (einer türkischen Gruppierung, die sich hauptsächlich aus gewaltbereiten Türstehern und Boxern rekrutiert) und den Trägern der HWA-Shirts (einer rechtsorientierten Bewegung, die „Heilbronn, wach auf!“ bedeutet) wird mit der Zeit ein regelrechter Krieg auf den Straßen.
Die Frage, wie sich die Spannungen zwischen den verfeindeten Milieus ausprägen, während Kemal durch die Stadt flaniert, bekommt im Laufe der Geschichte immer mehr Gewicht.
In seiner früheren Jugend konnte Kemal noch unschuldig die türkische Fahne seines Vaters aus einer in der Kommode wohlverwahrten Schatulle entwenden, um sie bei einem Fußballspiel zwischen dem deutschen und dem türkischen Club vor Ort zu schwenken.
Viel mehr als die stumme Wut seines Vaters brachte ihm dieser eigenmächtige jugendpatriotische Akt aber nicht ein.
Ganz anders in der Gegenwart. Es scheint nicht länger möglich, dass die staatlichen Institutionen für ein weitgehend friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sorgen können.
Heftige Ausschreitungen, gelegte Brände und mutwillige Zerstörungen sind die Folge – manche Bilder im Roman erinnern geradezu an vergleichbare Vorgänge an manchen „Hotspots“ der Gegenwart.
So wird Kemals innerer Konflikt wie in einem unruhigen Spiegel auf die Außenwelt projiziert, und die Beule an der Stirn, die er von einem Gewaltexzess in einem Zirkuszelt (!) davonträgt, macht ihn zum echten Zeugen der ungewissen Gegenwart.
„Hawaii“ ist ein erstaunlich souveränes Romandebüt und trotz der bedrückenden Ernsthaftigkeit manch geschilderter Vorgänge voller Witz und Leichtigkeit.
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