Wer ist der arabische Mann?
"Die Freiheit der Frauen ist meine Freiheit", sagt Kamel Daoud - und erntet dafür bei einem der größten Literaturfestivals Europas, der "Lit.Cologne" in Köln, schon tosenden Applaus, bevor er seine These ganz zu Ende geführt hat. "Dort, wo ein Land ein gesundes Verhältnis zur Frau hat", erklärt er, "geht es auch dem Land gut. Dort, wo es ein krankes Verhältnis zur Frau hat, geht es ihm schlecht." Eine starke These, die auch durch die leicht verzerrte Stimme der Skype-Schalte nicht an Kraft verliert. Er verstehe sich nicht als Kämpfer für die Rechte der Frau, sagt Kamel Daoud, sondern als Individualist, der für seine persönlichen Freiheitsrechte eintrete, die sich nun mal an den Rechten messen ließen, die einer Frau zugestanden würden.
Kamel Daoud ist per Skype-Video aus seiner Heimatstadt Oran in Algerien zur Lesung seines Romans "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" zugeschaltet. Bei einem Autounfall hat er sich vor wenigen Wochen beide Beine gebrochen. Wenn er wieder gesund werden wolle, sei ein Flugzeug zu besteigen unmöglich, teilten ihm die Ärzte mit. Dabei wäre Kamel Daoud, das sagt er gleich zur Begrüßung, gerne vor Ort gewesen und hätte Köln erlebt, jene Stadt, die nach dem Bekanntwerden von sexuellen Überfällen auf Frauen in der Silvesternacht 2015/2016 auf einmal weltweit in die Schlagzeilen geriet. Und zu denen auch der Schriftsteller und Journalist aus Algerien sich zu Wort gemeldet hat.
Köln, der Ort der "Wahnphantasien"
Die Aufnahme der Flüchtlinge stoße im Westen auf einige Naivität, hatte Daoud in der französischen Zeitung "Le Monde" geschrieben. "Das für die westliche Moderne so fundamentale Verhältnis zur Frau wird zumindest dem Durchschnittsmann unter den Flüchtlingen lange unverständlich bleiben." Die Flüchtlinge hätten ihr Leben gerettet, ihre Kultur würden sie aber nicht so leicht aufgeben. "Da genügt der kleinste Anlass, ein Rückfall in den Herdentrieb oder ein affektiver Fehlschlag, und alles kehrt schmerzvoll wieder." Der Artikel sorgte für viel Aufmerksamkeit, wurde in verschiedenen europäischen Zeitungen abgedruckt, auf Deutsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Und er wurde scharf kritisiert. Daoud bediene islamophobe Vorurteile und heize eine Stimmung an, die in Europa ohnehin gegen Flüchtlinge aus der muslimischen Welt existiere, hieß es von Seiten einiger französischer und europäischer Essayisten, Professoren und Intellektueller.
Dabei schrieb Daoud über Köln als "Ort der Wahnphantasien" - sowohl der Rechtsextremen, die über eine Invasion von Barbaren schimpften, als auch der Vergewaltiger. Zugeschaltet in die Stadt der Silvesternacht stellt er noch einmal klar: Er bekämpfe gar nicht im Speziellen den Islamismus, aber dies sei nun einmal jener Terrorismus, unter dem er in seiner Heimat leide.
"Terrorismus ist eine universelle Krankheit, egal, ob es sich um islamische Fundamentalisten handelt, um jüdische oder katholische. Sie alle zeichnet ein krankes Verhältnis zum Körper aus", führt Daoud auf der "Lit.Cologne" aus. Rund 400 Menschen hören ihm gebannt zu. "Weil die Frau diejenige ist, die das Leben schenkt und Terroristen das Leben nicht lieben, hassen sie die Frau."
Antwort auf Albert Camus: Wer ist der namenlose Araber?
Kamel Daoud ist innerhalb der letzten zwei Jahre zu einem der meist beachteten Intellektuellen der arabischen Welt avanciert. Sein Roman "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" löste in Frankreich gleich nach dem Erscheinen vor zwei Jahren einen Skandal aus. Da wagte es doch tatsächlich ein algerischer Autor, zum großen französischen Klassiker "Der Fremde" von Albert Camus eine Gegengeschichte zu entwerfen! Der namenlose Araber, der von Camus' existentialistischem Helden Meursault am Strand erschossen wird - ganz ohne Grund, oder war es der Sonnenstich des Täters? - erhält in Daouds Roman eine Identität. Erzählt aus der Perspektive des Bruders von Moussa, so nennt der Algerier den bislang namenlosen Araber, entwirft Daoud im Roman die Folgegeschichte auf den Mord. Eine Geschichte voller Wut auf die französischen Kolonialherren, die einfach so einen Araber töten können - und ihm nicht einmal im Tod einen Namen zugestehen.
"Ich muss Sie leider enttäuschen, aber ich bin kein Dekolonisierter, der sich an Camus rächen wollte", sagt Daoud schmunzelnd zu den Kölnern. "Auch ich habe 'Der Fremde' sehr gerne gelesen." Er habe die Geschichte schlicht fortschreiben wollen. Und so wird tatsächlich im Laufe des Romans der Held, Haroun mit Namen, zu Meursaults Zwilling im Geiste. Auch Haroun wird einen absurden Mord begehen - spiegelbildlich zu Meursault bringt er nicht einen Araber um, sondern einen Franzosen, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Und er kann nicht einmal sagen, dass er dies im Namen der algerischen Revolution getan hat, vor deren Hintergrund der Roman spielt. Er rettet sie also nicht, die Ehre des algerischen Mannes, zumindest nicht so wie es die Freiheitskämpfer gerne hätten.
Und die Frauen? Auch sie spielen im Roman eine Rolle. Referenzpunkt ist stets die Mutter des Helden. Und dann ist da noch Meriem: "Sie gehört zu einer Art von Frauen, die es heute in diesem Land nicht mehr gibt", schreibt Daoud in Harouns inneren Monolog, aus dem das Buch besteht. "Frei, bereit, sich erobern zu lassen und zu erobern, niemandem unterworfen sein und ihren Körper als eine Gabe zu leben und nicht wie eine Sünde oder Schande."
Eine Fatwa und ein bahnbrechendes Rechtsurteil
Es hat nicht erst dieser Sätze bedurft, um Kamel Daoud ins Visier von Islamisten rücken zu lassen. Seit zwanzig Jahren schreibt er als Kolumnist für die algerische Zeitung Le Quotidien d'Oran. Immer wieder hat er dort wie in französischen Zeitungen und TV-Sendern den Islamismus als "größten Feind der Freiheit" bezeichnet. Im Dezember 2014 schließlich sprach der salafistische Prediger Abdel Fattah Hamadache, Anführer der verbotenen Islamisten-Partei "Front de la Sahwa libre", eine Fatwa gegen Daoud aus. Auf seiner Facebook-Seite schrieb der Prediger, Daoud bekriege Gott und dessen Propheten und müsse öffentlich hingerichtet werden. Polizeischutz bekam Daoud in Algerien nicht. Und vermutete der Staat wolle ihn ins Exil treiben, was er verweigerte.
Vor wenigen Tagen aber verurteilte ein Gericht in Oran den Salafisten-Prediger überraschend zu sechs Monaten Haft, davon drei ohne Bewährung. Es ist Experten zufolge das erste Mal, dass ein Fundamentalist in der arabisch-muslimischen Welt wegen Todesdrohungen gegen einen Intellektuellen verurteilt wird. Ein großer Sieg für Daoud, der geklagt hatte.
Und doch: Der Autor zieht sich zurück, will vorerst nur an Romanen arbeiten, keine journalistischen Essays mehr schreiben. Gegen die Islamisten zu kämpfen, das hat er geschafft, aber gleichzeitig auch noch für seinen Text über die Kölner Silvesternacht als islamophob bezeichnet zu werden? Das war Daoud zu viel. "Ich werde ein, zwei Jahre pausieren", verrät er bei der Lit.Cologne, "und dann doch wieder zurückkommen. Aber sagen Sie's keinem weiter." Den Applaus in Köln hat er sicher.
Sarah Judith Hofmann
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