Die Saat der Gewalt

Eines der zerstörten Autofenster, im Hintergrund das Dorf Mufkara
Eines der zerstörten Autofenster, im Hintergrund das Dorf Mufkara

Angriffe militanter Siedler haben die palästinensischen Westbank-Dörfer im Süden von Hebron schon oft erlebt. Aber beim Überfall von achtzig Maskierten auf den Ort Mufkara gingen nicht nur Scheiben zu Bruch. Fast hätte er auch das Leben eines dreijährigen Kindes gekostet. Viele Israelis reagierten entsetzt. Außenminister Yair Lapid sprach erstmals von "Terror“. Von Inge Günther

Von Inge Günther

Letzte Nacht habe ihr Dreijähriger sie gefragt, ob auch ja alles zu ist, berichtet seine Mutter, Bara’a Hamandi. Damit niemand komme, um ihn zu holen, habe er gesagt. Die Ärzte sind zwar zuversichtlich, dass die ihm gewaltsam zugefügte Kopfverletzung keine medizinischen Spätfolgen nach sich ziehen werde. Eine Operation, um die Hirnblutung zu stillen, blieb ihm erspart. Nach viertägiger Behandlung im Soroka-Hospital in Beer Scheva ist Muhammad Bakr Hussein wieder zuhause. Aber was in dem Knirps vor sich geht, lässt sich nur erahnen, wenn er auf die gezackten Glassplitter im Fensterrahmen blickt.

Es sind die Überreste eines der massivsten Siedlerangriffe, den ein palästinensisches Dorf je erlebt hat. Kaum eine Scheibe in Mufkara, einem Flecken am Südrand des Westjordanlandes, ist heil geblieben. Nicht am Gemeinschaftstraktor, nicht an den Autos, ohne die man in dem abgelegenen Dorf aufgeschmissen ist, und auch nicht an den ärmlichen Behausungen. Doch der Steinbrocken, den einer der rund achtzig Maskierten voller Wucht durch besagtes Fenster schleuderte, hätte Muhammad fast das Leben gekostet.

Es geschah am helllichten Mittag, dem letzten Dienstag im September. Begonnen hatte alles mit einem Vorfall nach allzu bekanntem Muster. "Von draußen drang Lärm“, erinnert sich Fasel Hassan Hamandi. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, ein paar Israelis aus dem illegalen Siedlervorposten Avigail attackierten einen palästinensischen Hirten und seine Herde am Hang vis-a-vis von Mufkara. "Ich rannte raus, um ihm beizustehen“, so der 45-Jährige Hamandi. Er schiebt seine schwarz-weiß gewürfelte Keffijeh aus dem sonnengegerbten Gesicht. Mit einer derart schweren Eskalation habe er zunächst gar nicht gerechnet. Aber diesmal blieb es nicht bei ein paar von den Angreifern abgestochenen Ziegen.

Der dreijährige Muhammad Bakr Hussein mit seiner Mutter Bara’a Hamandi vor dem Haus der Familie in dem Dorf Mufkara im Westjordanland; Foto: Inge Günther
Der dreijährige Muhammad Bakr Hussein mit seiner Mutter Bara’a Hamandi vor dem Haus der Familie in dem Dorf Mufkara im Westjordanland. Als militante Siedler, meist junge Männer, bewaffnet mit Schlagstöcken, Hämmern und sonstigem Werkzeug in das Dorf Mufkara stürmten, um zielgerichtet palästinensisches Hab und Gut zu zertrümmern, wurde der Junge durch einen Steinbrocken schwer am Kopf verletzt. Vier Tage lang wurde er im Soroka-Hospital in Beer Scheva behandelt. Eine Operation, um seine Hirnblutung zu stillen, blieb ihm glücklicherweise erspart.

Der Vorfall auf der Weide war nur der Auftakt für einen konzertierten Siedler-Überfall von gleich zwei Seiten. Sowohl aus Avigail als auch aus Havat Maon, einem weiteren berüchtigten Siedlerposten, stürmten meist junge Männer, bewaffnet mit Schlagstöcken, Hämmern und sonstigem Werkzeug in das Dorf Mufkara, um zielgerichtet palästinensisches Hab und Gut zu zertrümmern.



Im Zuge der Eskalation trafen auch mehr und mehr Armeetrupps ein, feuerten Tränengas und Blendgranaten ab. Aber die Soldaten, schildert der palästinensische Bürgerrechtler und "B’Tselem"-Aktivist Nasser Newada, hätten nicht die Dörfler, sondern die Siedler geschützt.



"Diese Angreifer hier kannten kein Erbarmen“

Ein anderer Augenzeuge, der zufällig anwesende israelische Journalist Juval Abraham, hat aufgeschrieben, wie Mariam Hamamdah, 30, schnell entschlossen rund zwanzig verängstigte Kinder in einen Raum scheuchte, der wegen der verschließbaren Tür sicher schien. In ihrer Mitte legte sich der kleine Muhammad zum Schlafen hin. 

Als sie hörte, wie Glas zerbrach, rannte Mariam wieder hinein, sah ihren Neffen Muhammad auf dem Boden liegend, aus einer offenen Kopfwunde blutend und bewusstlos. Blutgetränkt ist auch die Jacke, mit der sie auf dem Weg zu einer Ambulanz seine Verletzung zu stillen versuchten.



Sein Großvater Mahmud Hussein Hamandi hat die Jacke aufbewahrt, zum Beweis, was seinem Enkel angetan wurde. "Diese Angreifer hier“, sagt er, "kannten kein Erbarmen.“

Entsetzen hat das Geschehen auch unter vielen Israelis ausgelöst. Unerwartet deutlich verurteilte Außenminister Yair Lapid den Siedlerüberfall auf Mufkara. "Das ist Terror und nicht der israelische und nicht der jüdische Weg,“ sagte er. Die israelische NGO Comet-me, die seit Jahren vernachlässigte palästinensische Dörfer mit Solarpaletten versorgt, war sofort am nächsten Tag zur Stelle, um den demolierten Wassertank zu reparieren.



Von Stromversorgung und fließendem Wasser ist Mufkara seit jeher abgeschnitten, so wie zahlreiche andere palästinensische Ortschaften, die sich im C-Gebiet, den von Israel kontrollierten sechzig Prozent der Westbank, befinden.

Sollen die alteingesessenen Palästinenser verdrängt werden?

Die Lage in Mufkara ist allerdings zusätzlich prekär, weil es in einem 2700 Hektar großen Gebiet liegt, das Israels Armee als Übungsgelände beansprucht, bekannt auch als "Firing Zone 918“. Ob es tatsächlich für das militärische Training unverzichtbar ist, bezweifelt freilich nicht nur die besatzungskritische Organisation ehemaliger Soldaten und Soldatinnen von "Breaking the Silence“ (Das Schweigen Brechen). Der Streit um die "Firing Zone 918“ beschäftigt die Gerichte schon seit der Millenniumswende. Einiges spricht dafür, dass es in Wahrheit darum gehe, die alteingesessene palästinensische Einwohnerschaft zum Wegzug zu drängen.

Real für Übungszwecke genutzt wurde das felsige Gelände von den Streitkräften jedenfalls äußerst selten. Überdies sind in jüngster Zeit weitere ungenehmigte Siedlervorposten in der "Feuerzone 918“ entstanden, ohne dass es nennenswerten Einspruch gegeben hätte. In den 14 palästinensischen Dörfern im fraglichen Gebiet gilt indes eine höchstrichterliche Verfügung, nichts Neues bauen zu dürfen. Weder Zimmer noch Stall, nicht mal eine gemauerte Einfassung für einen Stromgenerator. Bei Zuwiderhandlungen werden sofort Abrissbefehle erteilt.

Der israelische Außenminister Jair Lapid; Foto: Gil Cohen-Magen/AFP
Entsetzen über den brutalen Siedlerangriff in Israel. Außenminister Yair Lapid verurteilte den Siedlerüberfall auf Mufkara überraschend deutlich. "Das ist Terror und nicht der israelische und nicht der jüdische Weg,“ sagte er und kündigte an, die Täter würen Rechenschaft gezogen. Ob es dazu kommt, ist jedoch eher zweifelhaft. Sechs Verdächtige wurden zwar in den Tagen nach der Tat festgenommen, aber befinden sich teils schon wieder auf freiem Fuß. Yochai Damari, Vorsteher des regionalen Siedlerrats, schiebt die Attacke von Mufkara auf Besucher von außerhalb. Seine Leute hätten damit nichts am Hut.

Just an diesem Morgen sind wieder zwei weiße Armeejeeps in Mufkara vorgefahren, um Fotos von dem Solidaritätszelt zu schießen, das nach dem Siedlerüberfall am Dorfrand errichtet wurde. "Aus Erfahrung wissen wir, dass sie in einer Woche wiederkommen werden, um uns eine Abrissorder auszuhändigen“, meint Muhammads Großvater Hamandi bitter. Er macht sich auch keine Illusionen, dass Israel diesmal, so wie von Außenminister Lapid angekündigt, die militanten Angreifer zur Rechenschaft ziehen werde.



Sechs Verdächtige wurden zwar in den Tagen nach der Tat festgenommen, aber befinden sich teils schon wieder auf freiem Fuß. Yochai Damari, Vorsteher des regionalen Siedlerrats, schiebt wiederum die Attacke von Mufkara auf Besucher von außerhalb. Seine Leute hätten damit nichts am Hut.

"Breaking the Silence“ setzt derweil auf eine öffentlichkeitswirksame Kampagne, um den Verantwortlichen in der Regierung Druck zu machen. Einige Busse kurven bereits mit einem Riesenposter unter der Heckscheibe durch den Großraum Tel Aviv. Darauf abgebildet ist der kopfverletzte Muhammad neben den beiden israelischen Ministern für Verteidigung und Innere Sicherheit, versehen mit der Schrift: "Es ist Zeit, die Siedlergewalt zu stoppen. Benny Gantz, Omer Bar-Lev – das ist eure Aufgabe.“ 

Inge Günther

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