Politik mit zweierlei Maß
Selten hat europäische Politik so eklatant versagt wie bei dem Versuch, den Krieg im Gazastreifen zu beenden. Anstatt mit einer Stimme zu sprechen präsentiert sich die EU als ein Jahrmarkt der Beliebigkeiten, kritisiert der Nahostexperte Michael Lüders.
Wer war nicht alles im Nahen Osten mit Diplomatenpass unterwegs: Angefangen mit einer EU-Delegation unter Führung des tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg, der aus seiner wenig ausgewogenen Haltung im Nahostkonflikt nie einen Hehl gemacht hat.
Parallel dazu begab sich der französische Staatspräsident Sarkozy auf den Weg nach Damaskus und Ägypten, frei nach dem Motto: "L'Europe, c'est moi!". Dann Tony Blair, der im Namen des Nahost-Quartetts durch die Region tourte, nicht zuletzt der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Bewirkt haben sie allesamt nichts.
Fehlender politischer Druck
Anstatt mit einer Stimme zu sprechen, anstatt das bestehende Machtvakuum bis zum Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Obama konstruktiv zu füllen, präsentiert sich die EU als ein Jahrmarkt der Beliebigkeiten. Politischer Druck entsteht auf diese Weise nicht.
Die Kakophonie hat auch institutionelle Gründe. Solange die EU keine Verfassung besitzt, bleiben ein EU-Außenminister oder eine gemeinsame Sicherheitspolitik Utopie. Nicht allein in Gaza leisten sich die Europäer einen Offenbarungseid.
Auch die Reaktionen auf den Krieg in Georgien im vorigen Sommer oder die Frage einer Anerkennung des Kosovo hat tief greifende Meinungsunterschiede innerhalb Europas offenbart. Nationale Egoismen und ideologische Gegensätze sind stärker als der Wunsch nach Einheit.
Im Falle Israels kommt ein anderer Faktor hinzu. Kein europäischer Staat, am allerwenigsten Deutschland, ist bereit, die Regierung in Tel Aviv in die Pflicht zu nehmen. Das hat zu tun mit dem Holocaust, aber auch mit den engen Beziehungen zwischen den USA und Israel.
Hamas als kollektive persona non grata
Was die beiden Verbündeten für richtig halten, wird in Brüssel in der Regel übernommen und befolgt. Beispiel Hamas: Nachdem sich Tel Aviv und Washington geweigert hatten, den klaren Sieg der religiösen Nationalisten bei den palästinensischen Parlamentswahlen vor drei Jahren anzuerkennen, schloss sich die EU dieser Linie an. Die Hamas wurde somit zur kollektiven persona non grata und politisch verbannt.
Gleichzeitig vermied die EU jedweden Druck auf Israel, um die Versorgung der Bewohner
im Gazastreifen sicherzustellen. Brüssel begnügte sich mit dem Mantra, die Hamas müsse zunächst das Existenzrecht Israels anerkennen.
Weder die Vertreibung der Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 noch die anhaltende Besatzung und der Siedlungskolonialismus, weder die regelmäßigen Verletzungen Israels von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates noch die rund 11.000 in Israel einsitzenden palästinensischen Gefangenen, von denen die meisten nie einen Richter gesehen haben, ja nicht einmal die systematische Zerstörung der palästinensischen Infrastruktur im Westjordanland 2002 und jetzt im Gazastreifen, die größtenteils mit EU-Geldern aufgebaut worden war, haben in Brüssel jemals nennenswerte Reaktionen ausgelöst.
Einseitige Forderungen
Geschweige denn, dass der israelischen Regierung eine Rechnung für die angerichteten Zerstörungen gestellt worden wäre. Forderungen werden ausschließlich an die palästinensische Seite gerichtet, nie an die israelische. Das gilt auch für die jüngste Reise des deutschen Außenministers in den Nahen Osten.
Steinmeier sieht die Lösung der Krise einzig darin, den Waffenschmuggel in den Gazastreifen durch die bestehenden Tunnel aus Ägypten zu unterbinden. Das sei die Voraussetzung, um den Beschuss Israels durch die Hamas zu beenden.
Die Frage nach einer Grenzöffnung des Gazastreifens, nach einem Ende der Blockade durch Israel, nach politischen Perspektiven und Sicherheit auch für die Palästinenser, stellt sich bislang weder für Berlin noch für Brüssel.
Vermittlung statt Parteinahme
Eine konstruktive europäische Politik müsste vermitteln, nicht einseitig Partei ergreifen. Selbstredend sind israelische Sicherheitsbedürfnisse ernst zu nehmen. Sie dürfen aber nicht zum Alibi einer Siedlungs- und Besatzungspolitik werden, die von den Palästinensern, nüchtern besehen, die bedingungslose Kapitulation verlangt.
Die Hamas zu dämonisieren mag populär sein. Hilfreich ist es nicht. Mit wem soll ein Friedensabkommen für den Gazastreifen unterzeichnet werden, wenn nicht mit der Hamas? Die Europäer wären gut beraten, von der Hamas die Anerkennung des Existenzrechtes Israels zu verlangen, im Gegenzug aber die israelische Anerkennung des Existenzrechtes eines palästinensischen Staates einzufordern.
2002 und 2007 hat die Arabische Liga angeboten, die Beziehungen zu dem jüdischen Staat zu normalisieren. Im Gegenzug müsse Israel alle 1967 besetzten Gebiete räumen. Warum nicht dieses Angebot aufgreifen?
Friedensprozess in der Sackgasse
Klar ist, dass es einen Friedensprozess im Nahen Osten seit der Ermordung von Yitzhak Rabin im November 1995 nicht mehr gibt, nicht jenseits von Rhetorik. Stattdessen haben sich die Europäer in israelisch-amerikanische Initiativen wie die Road Map oder das Nahost-Quartett einbinden lassen, die beide nichts bewirkt haben, weil sie keinerlei Sanktionsmechanismen besitzen.
Diese Politik ist falsch und lässt diejenigen Israelis und Palästinenser im Stich, die gewillt sind,
friedlich zusammenzuleben - auf der Grundlage von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt. Im Nahostkonflikt vermittelnd einzugreifen, ist keine Frage von Moral und Ethik, sondern von handfester Interessenwahrung.
Rund zwölf Millionen Muslime leben in Westeuropa, und sie solidarisieren sich mit den Menschen im Gazastreifen. Je länger die Krise im Nahen Osten andauert, umso häufiger wird sie auch in Europa ausgetragen werden. Sei es in Form ethnisch-religiöser Auseinandersetzungen zwischen Juden und Muslimen oder als terroristische Bedrohung.
Gleichzeitig profitiert Teheran von der wachsenden Empörung in der arabisch-islamischen Welt, dieser als unerträglich empfundenen Kluft zwischen dem Freiheitsversprechen des Westens einerseits und der Realität westlicher Machtpolitik andererseits, der schon Abertausende Menschen zum Opfer gefallen sind. Im Irak und in Afghanistan, im Libanon, im Westjordanland und jetzt im Gazastreifen.
Der israelische Schriftsteller David Grossmann glaubt, dass Israelis und Palästinensern höchstens drei bis fünf Jahre bleiben, um eine Friedensregelung zu finden. Gelinge das nicht, drohe die Entstehung einer Stammesgesellschaft mit Clan- und Bandenstrukturen, auf beiden Seiten, vergleichbar der Lage im Irak. Niemand kann daran ein Interesse haben.
Michael Lüders
© Qantara.de 2009
Dr. Michael Lüders war langjähriger Nahostkorrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT. Er lebt heute als Politik- und Wirtschaftsberater, Publizist und Autor in Berlin.
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Krieg im Gazastreifen
Keine Lösung des Nahostkonflikts
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Antikriegsproteste in Israel
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In Israel formiert sich Protest gegen den Krieg im Gazastreifen. Die alte Garde der Friedensbewegung "Peace Now" scheint ausgezehrt, doch jetzt rückt eine neue Generation von Aktivisten nach. Joseph Croitoru berichtet.