Prüfender Blick
Betrachtet man das Gros politischer Analysen, so fällt auf, dass sich die Tendenz, über den Iran zu berichten, deutlich umgekehrt hat. Seit der Pragmatiker Hassan Rohani vor zwei Jahren Präsident geworden ist, erscheint die Politik Teherans in nahezu gleißend positivem Licht. Während sie noch zu Amtszeiten des Hardliners Mahmud Ahmadinedschad als die Inkarnation des Bösen porträtiert wurde.
Doch beide Narrative waren und sind kaum geeignet, die komplexe Realität in der Islamischen Republik zu erfassen. Es drängt sich der Verdacht auf, als wollten Beobachter mit wohlwollenden Berichten die internationalen Verhandlungen stützen – ein Phänomen, das man "embedded political analysis" nennen könnte.
So suggerieren viele Analysen, dass sich mit Rohani die Islamische Republik grundlegend verändert hätte. Vielmehr bewegt sich jede Veränderung, die es durchaus festzustellen gibt, im Rahmen einer Kontinuität.
Gewiss existiert ein Wettstreit zwischen Fraktionen des ausschließlich islamistischen Spektrums. Dieser täuscht jedoch über das fraktionsübergreifende Bewusstsein der politischen Elite hinweg. Ihr gemeinsamer Nenner, ihre absolute Priorität ist das Überleben des Regimes.
Gigantisches Ausmaß an Problemen
Auf der anderen Seite überzeugen jene Lesarten keineswegs, die jegliche Veränderungen in der iranischen Politik ignorieren. Sie sind eher dogmatisch, zumal wenn sie wie ein Mantra durch die Iran-Kommentare neokonservativer Kreise in Israel und dem Westen ziehen.
Sicherlich hat die neue außenpolitische Schule der Regierung den Ausgleich mit dem Westen auf ihre Fahnen geschrieben. Doch dass die Revolutionsgarden im Irak und in Syrien eine unheilvolle Politik betreiben, wird kaum benannt.
Zudem verkennen die wohlwollenden Experten das gigantische Ausmaß der Probleme im Iran. Noch immer ist die große Mehrheit der Bevölkerung systematisch von politischer und wirtschaftlicher Beteiligung ausgeschlossen. Die Sanktionen des Westens haben den autoritären Staat nicht geschwächt, sondern seine Macht gegenüber der Gesellschaft vergrößert.
Positiv wird sich das Land nicht entwickeln, solange Arbeitslosigkeit und Armut alarmierend hoch, die Abwanderung der Fachleute weltweit rekordverdächtig sind, solange Andersdenkende, Minderheiten, Frauen, Studenten, Arbeiter und jegliche soziale Bewegungen unterdrückt, die Presse zensiert, kulturelle und akademische Freiheiten beeinträchtigt werden. Zur traurigen Realität gehören auch die weltweit größte Hinrichtungsrate und verhängnisvolle Umweltkatastrophen.
Rohani kürzt Sozialausgaben
All das, wird uns suggeriert, will die Regierung Rohani anpacken. Doch der Budgetplan für das laufende Jahr setzt gegenteilige Akzente. Er kürzt Sozialausgaben, während der Sicherheits- und Militärapparat stärker alimentiert wird. Mit anderen Worten scheint Rohani nicht daran gelegen zu sein, das Leid der Hälfte der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, zu lindern sowie autoritäre Strukturen zu schwächen.
Zweifelsohne ist der Verhandlungs- und Annäherungsprozess zwischen dem Iran und dem Westen längst überfällig und sollte weiterbetrieben werden. Wünschenswert, wenn nicht gar notwendig, wäre es jedoch, wenn Beobachter keine allzu offensichtliche "politische Begleitung" dieses Prozesses betrieben, sondern nüchtern und kritisch die Lage im Iran beschreiben würden.
Denn nur unabhängige Analysen sind für politische Beratung oder wissenschaftliche Forschung hilfreich. Diese lassen sich an der Identifizierung von Machtstrukturen und Interessenlagen bei allen Parteien messen. Hingegen verdecken ausschließlich auf die Eliten beschränkte Analysen, den Blick auf sozio-ökonomische und gesellschaftspolitische Konfliktlinien.
Gerade letztere könnten aber – wie die "arabischen Rebellionen" demonstriert haben – für die zukünftige Entwicklung ausschlaggebend sein.
Ali Fathollah-Nejad
© Qantara.de 2015