Flüchtlingen ein Gesicht geben
Khaled Jarrars Film zum Thema hat eine besonders interessante Perspektive, denn es ist ein zutiefst persönlicher Film. Er begleitete 2015 auf der Balkanroute eine Familie aus Syrien mit palästinensischen Wurzeln. Der Künstler wurde auf sie aufmerksam, weil sie einen Hilfeaufruf an den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas gerichtet hatten.
Die betagten Eltern von Muna, die den Aufruf verfasste, haben nicht nur den Horror des Syrienkrieges im Palästinenserlager Yarmouk bei Damaskus überlebt, sondern auch noch selbst die Nakba, die Vertreibung aus Palästina 1948. Jarrar rief sie daraufhin an, erzählt er im Gespräch mit Qantara: "Ich bin zwar nicht der Präsident, aber ich würde gern einen Film über Euch machen.“ Muna war begeistert von der Idee.
Im Zentrum seines Interesses steht deren Mutter, die damals schon fast 80-jährige Nadera Abboud El Hawary, die 1936 in Nazareth geboren wurde. Jarrar arbeitete in den 1990er Jahren illegal in Nazareth in einer Tischlerei – nur 20 Minuten von seiner Geburtsstadt Jenin entfernt. Seine eigene Großmutter war 1948 von Haifa dorthin geflohen. Sie erzählte ihm als Kind viel von der Flucht. Persönliche Bezüge gibt es also reichlich.
Khaled Jarrar ist in den letzten Jahren zu einem gefragten internationalen Künstler geworden, der mit unterschiedlichen Formen arbeitet. Dieser Tage ein Interview mit ihm zu verabreden ist gar nicht so einfach, er reist für ganz unterschiedliche Projekte nach Paris, Leuwen, New York, zum Filmfestival nach Montreal.
Alarmierende Nachricht auf dem Handy
Mit dem Thema Grenzen und Flucht hat er sich auch als Künstler schon oft beschäftigt. Er hat einen imaginären Reisestempel für den imaginären Staat Palästina entworfen, Al-Jazeera hat eine Doku über das Projekt gedreht. 2016 reiste er durch die USA entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze, als Donald Trump im Wahlkampf den Bau einer Mauer angekündigt hatte. Und bereits 2012 erschien sein bis dato einziger erfolgreicher Film "Infiltrators“ über Palästinenser, die versuchen, die Trennmauer nach Israel zu überwinden.
Mit Muna ist er zunächst über Messenger in Kontakt. Da ist die Familie bereits dabei, mit Hilfe von Schleppern von Istanbul in Richtung Griechenland aufzubrechen. Plötzlich kommt eine alarmierende Nachricht auf seinem Handy an: "Hilfe, Khalid, wir sinken"! Jarrar saß in einem Café in Ramallah, hilflos, befürchtete, dass sie ertrunken sind.
Schließlich meldet sich die Familie aus Istanbul und berichtet, dass die türkische Küstenwache sie aus dem Wasser gefischt und zurückgebracht hat – nachdem andere vermummte Grenzschützer das Schlauchboot inklusive Motor zuvor demoliert hatten. Solche illegalen "Pushbacks“ sind zu einer gängigen Praxis an den EU-Außengrenzen geworden. Der zweite Versuch ist erfolgreich, Jarrar trifft die Familie nach Monaten des Kontakts endlich im September 2015 auf Lesbos.
Er will mit ihnen auf die Fähre nach Athen, wird aber nicht auf das Schiff gelassen; in dieser Szene manifestiert sich das bizarre Spiel mit Privilegien, Perspektiven, mit Zugehörigkeit und Distinktion. "Ich bin Künstler“, ruft Jarrar immer wieder, als wäre das von lebensrettender Dringlichkeit. "Das war sehr naiv, aber ich wollte unbedingt mit ihnen fahren“, sagt er. "Bei der Filmvorführung in Montreal habe ich meine Augen geschlossen, so peinlich war mir das.“
Aber er lässt die Szene bewusst im Film: Denn hier ist er ein Protagonist, das Reflektieren seiner eigenen Geschichte, aber auch seiner Rolle als Filmemacher steht im Zentrum des Films: "Ich wollte vor allem bei Nadera sein“, sagt Jarrar. "Die Familie hat mich mitgenommen, die anderen wussten nicht genau, wer ich bin. Nadera und ihre Familie waren jetzt meine Familie, ich wollte mit ihnen aus dieser Hölle entkommen. Ich wollte filmen, musste aber auch überleben, da gab es gar keine Distanz mehr - völlig anders als die Perspektive von Filmemachern sonst.“
Beobachter und Akteur zugleich - ist das legitim?
Jarrar ist hier nicht nur Dokumentarfilmer, sondern auch Akteur, solidarischer Begleiter und selbst betroffen von den menschenunwürdigen Umständen auf dem Weg.
Dennoch: Ist es moralisch zu rechtfertigen, gemeinsam mit den Flüchtlingen zu laufen und sie zu filmen, obwohl er selbst gar nicht auf der Flucht ist? Jarrar selbst hat ein Schengen-Visum; aber das wiederum befindet sich in einem palästinensischen Pass, zu dem es gar keinen zughörigen Staat gibt. Jarrar und seine Familie wuchsen unter israelischer Besatzung auf. Wo steht er damit in der Hierarchie dieses bizarren Systems?
Jarrar hadert mit diesen Fragen – so massiv, dass er den Film jahrelang liegen ließ, obwohl er kurz nach den Filmaufnahmen lukrative Angebote für die Produktion bekam. "Wenn die Jungs im Film sagen, 'das ist Khaled, der macht Geld mit unserem Elend‘, haben sie ja auch irgendwie Recht," meint Jarrar. "Aber ich hatte definitiv kein Interesse daran, den Markt und seine Bedürfnisse nach 'exotischen‘ Flüchtlingsgeschichten und Bildern, die das Stigma 'Flüchtling‘ reproduzieren, zu befriedigen.“
Heute ist der Film nicht nur ein Kommentar zur sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, sondern auch zur aktuell nicht minder dramatischen Lage im Mittelmeer, die schon wieder weitgehend aus den Nachrichten verschwunden ist. Gegen diese Normalisierung der Fluchtgeschichten, deren individuelle Dramatik Jarrar zeigt, will er ein Zeichen setzen.
"Notizen über Vertreibung“ nennt Jarrar seinen Film und tatsächlich wirkt der Film wie ein Tagebuch voller Gedanken und Reflexionen zu den oft absurden und entwürdigenden Umständen auf der Fluchtroute, der Kälte, der Feindseligkeit, der nicht enden wollenden Reihe von Lagern mit Zäunen, durchnässten Matratzen und verdorbenem Essen.
Und der Wahrnehmung der Menschen als "die Flüchtlinge“, als wäre das ihr alles beschreibendes Wesensmerkmal, symbolisiert durch ein schwedisches Kamerateam, dessen Reporter mit Regenschirm neben Muna und Nadira spaziert, während die beiden Frauen im Regen über das Leid der Fluchterfahrung sprechen sollen.
Deutschland zu sehr idealisiert
Der empathische Blick von Jarrar, der sich immer wieder liebevoll auf Nadera und ihre beschwerliche Reise richtet, steht im drastischen Gegensatz dazu. Es ist unglaublich, wie die alte Frau die beschwerliche Reise, teils im Rollstuhl sitzend, durchhält. Nur in einer Szene bricht sie in Tränen aus: Als sie von ihrer Flucht als Kind, als 12-Jährige, aus Palästina berichtet: Sie war Grundschülerin, habe die Schule über alles geliebt. Sie erinnert sich noch, wie sie ihre Hausaufgaben mitgenommen hat: "‘Morgen gehst du wieder zur Schule’, habe ihre Mutter versprochen.“
Sie konnte nie wieder zurückkehren. Ihr ein Jahr alter Bruder Nidal sei auf der Reise gestorben, seine Decke, seine Babysachen musste die Mutter zurücklassen. Jarrar erinnert im aktuellen Gedenkjahr - 75 Jahre nach der Nakba - an das Schicksal vieler 1948 aus Palästina vertriebener Familien.
Als die Familie endlich in Deutschland angekommen ist, ruft Khaled Nadera zu: "Wenn du einen deutschen Pass hast, kannst du nach Palästina reisen!“ Das war ein Moment der Hoffnung und Freunde für die Alte. Ob sie wirklich daran glaubt, bleibt unklar, der Film endet hier.
Jarrar findet bis heute verstörend, wie sehr Deutschland von vielen Flüchtlingen 2015 als gelobtes Land angesehen wurde. Von Nadera erzählt er im Abspann: Es dauert Jahre, bis ihr Asylantrag entschieden ist, 2017 stirbt sie in Warstein und liegt dort begraben.
Kann es ein Ankommen geben? Zu wirkmächtig sind dafür womöglich die Hierarchien, die Jarrar auf seiner Reise beobachtet. Aber als Künstler versucht er, diese immer wieder aufzulösen: "Ich glaube nicht an Staaten und Grenzen, ich glaube an die Menschheit.“ Sein Film ist ein kraftvoller und poetischer Gegenentwurf zu einer Welt, die von Grenzen und Ausgrenzung bestimmt ist und für deren Überwindung Khaled Jarrar sich mit seinem vielfältigen künstlerischen Schaffen einsetzt.
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