Der Krieg mit dem Wasser
Die Bilanz ist verheerend: 60.000 Menschen von Falludscha bis Abu Ghraib haben ihr Zuhause verloren, ihre Ernte, ihr Vieh, ihre Lebensgrundlage. Mehr als 200.000 Iraker haben die Provinz Anbar verlassen. Schuld sind die Wassermassen, die seit Wochen ein Leben in Iraks flächenmäßig größter Provinz unmöglich machen. Fast 100 Kilometer sind überschwemmt, und das Wasser geht nur langsam zurück.
Wie der Vorsitzende des Provinzrates in Ramadi bekannt gab, mussten 49 Schulen geschlossen werden, Studenten ihre Examina verschieben. 10.406 Häuser wurden zerstört und 80.000 "Donum" Agrarland (ein irakisches "Donum" entspricht 2.500 Quadratmetern) ist unbrauchbar geworden.
"Das ist die schlimmste Flutkatastrophe seit den 1950er Jahren", erklärt der Landwirt Ezhar Ibrahim. Er hatte noch Glück im Unglück. Gerade noch rechtzeitig konnte er seine Melonen ernten, bevor die große Flut kam. Nun stehen seine Felder unter Wasser. "Es ist ein Verbrechen, was die mit uns machen", schreit Ibrahim verzweifelt und zählt die wenigen Scheine, die er durch den Verkauf seiner Melonen am Straßenrand in Bagdad eingenommen hat.
Wasser als Mittel der Kriegführung
Mit "die" meinen die einen die irakische Regierung, die anderen die ISIS, die sunnitische Terrororganisation vom Schlage Al-Qaidas, die sich seit Monaten erbitterte Gefechte um die Vorherrschaft in der Provinz Anbar mit Regierungstruppen und Stammesführern liefert. Beide Seiten haben wohl nicht Unrecht, denn sowohl die Terroristen als auch die Verantwortlichen in der Regierung benutzen die Fluten des Euphrat als Waffe für ihren Konflikt. Das Wasser wird zum Mittel der Kriegführung.
Die Flut werde Bagdad nicht erreichen, ist sich Aun Abdullah sicher. "Wir werden sie aufhalten." Der Sprecher des Wasserministeriums ist wütend, wenn er nach der Flutkatastrophe gefragt wird. "Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!", meint der 68-jährige Iraker. Seit 46 Jahren arbeitet er mit der Ressource Wasser. Zunächst in Naserija, seiner Heimatstadt im Südirak, dann in Basra als Chef des Amtes für landwirtschaftliche Bewässerung. Jetzt holte ihn der Wasserminister in Bagdad aus seinem Ruhestand zurück, um eine Lösung für die Katastrophe in Anbar zu suchen.
Am Tropf des Euphrats
Experten sind Mangelware im Irak der Post-Saddam-Ära. Durch den Bürgerkrieg der Jahre 2006 und 2007 wurden viele Fachleute getötet oder außer Landes getrieben. Als die ISIS-Terroristen, die aus Al-Qaida hervorgegangen sind – Ende April die Schleusentore am Euphrat-Damm oberhalb der Stadt Falludscha schlossen, drehten sie zehn Millionen Menschen buchstäblich das Wasser ab. Während Bagdad sein Trinkwasser vom Tigris bekommt, hängen die Städte Kerbela, Nadjaf, Babylon und Nasserija am Tropf des Euphrats.
Der sunnitischen Terrororganisation, die seit Monaten wieder vermehrt Anschläge gegen Schiiten verübt, scheint jedes Mittel recht, um dem schiitischen Regierungschef in Bagdad unter Druck zu setzen. Falludscha soll bereits fest in der Hand von ISIS sein, auch Bagdads Vorort Abu Ghreib, dessen berüchtigtes Gefängnis inzwischen geräumt worden ist.
Mit der Waffe Wasser sollten nun die heiligen Stätten der Schiiten, Kerbela und Nadjaf, trockengelegt und der Terror in den Süden ausgedehnt werden. Außerdem beabsichtigten die Terroristen, die Parlamentswahlen vom 30. April empfindlich zu stören, was ihnen auch gelang. Aufgrund der Wasserkatastrophe konnte nur etwa ein Drittel der Wahllokale in der Provinz Anbar öffnen.
Abdullah und seine Kollegen im Wasserministerium trafen schließlich eine folgenreiche Entscheidung. Sie öffneten alle Schleusentore am weiter nördlich gelegenen Damm des Euphrat bei Haditha, sodass der Pegel drastisch anstieg und ein Hochwasserstand bei der geschlossenen Schleuse in Falludscha entstand. Die Folge: Das Wasser stieg über die Ufer des Euphrats, drückte in die Bewässerungskanäle und ließ die porösen Mauern platzen.
Wasser- und Flüchtlingswellen
"Es gibt nun oberhalb von Falludscha Überschwemmungen und unterhalb Dürre", berichtet der Wasserexperte. Die politische Dimension dieser Entscheidung will Abdullah indes nicht kommentieren, beklagt jedoch den jämmerlichen Zustand der Sunnitenprovinz, in der die Terroristen ein- und ausgehen, im regen Kontakt mit anderen Extremistengruppen in Syrien. "Sie vertreiben die Bauern aus ihren Häusern, um sich selbst dort einzuquartieren." Die Vereinten Nationen sprechen mittlerweile von über 400.000 Menschen, die bereits vor den Terroristen aus Anbar geflohen seien. Die meisten Binnenflüchtlinge stammen aus Falludscha.
Regierungskritiker führen an, dass die Überschwemmungen gezielt provoziert wurden, um die Bewegungsfreiheit der ISIS-Terroristen einzuschränken und ihren Vormarsch auf Bagdad zu stoppen. Außerdem würde angesichts der Überschwemmungskatastrophe die Unterstützung für die Terroristen abnehmen, so ein Beamter aus dem Umfeld von Ministerpräsident Nuri al-Maliki. Ohne einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung könne die ISIS ihre Operationsbasis in Anbar nicht aufrecht erhalten.
Albtraum Falludscha
Schon für die Amerikaner wurde Falludscha zum Albtraum. Die US-Truppen erlitten dort ihre größten Verluste. Jetzt wird das militärische Ringen um die Stadt zur Bewährungsprobe für die irakische Armee – ohne die Amerikaner.
Das Kalkül Malikis scheint derzeit aufzugehen. Angesichts der Fluten in "ihrem" Territorium, haben die Terroristen der ISIS inzwischen eines der zehn Schleusentore wieder geöffnet. Abdullah spricht von 200 Kubikmeter Wasser, das seine Behörde pro Sekunde jetzt durchleiten kann. 60 bis 70 Kubikmeter kommen noch zusätzlich aus den Kanälen. Die Lage hat sich etwas entspannt.
Allerdings räumt er auch ein, dass die Landwirtschaft allein für die Bewässerung 500 Kubikmeter pro Sekunde bräuchte. "Sie können sich vorstellen, was das für die Landwirte bedeutet." Bis das ganze Ausmaß der Katastrophe erfasst werden könne, werde es noch eine ganze Weile dauern. Die irakische Armee führt gerade eine umfassende Militäroperation gegen die ISIS in Anbar durch. Für Abdullah und seine Kollegen vom Wasserministerium wäre es lebensgefährlich dorthin zu gehen.
Die internationale Menschrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) spricht von verstärkten Luftangriffen auf die Stadt Falludscha, bei denen Splitterbomben auf Wohngebiete abgeworfen werden. Auch sei das städtische Krankenhaus mit Mörsergranaten und anderer Munition angegriffen worden. Die Organisation geht von einer neuerlichen Flüchtlingswelle aus.
Birgit Svensson
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de