Lokal verhandeln, international durchsetzen
"Friedensstrategien" ist ein großes Wort. Zu groß für das, was derzeit in und um Syrien herum stattfindet. Aber immerhin gibt es Gespräche und neue Ideen, die das Leid der Syrer etwas lindern könnten – vorausgesetzt sie werden nicht nur mit Worten unterstützt.
Drei Entwicklungen laufen parallel. Erstens versucht Russland, Vertreter von Regime und Opposition in Moskau an einen Tisch zu bringen. Zweitens diskutieren die wichtigsten Oppositionsgruppen einen Fahrplan zum schrittweisen Machtwechsel in Damaskus. Und drittens wirbt der UN-Sonderbeauftragte für Syrien Staffan de Mistura dafür, den Konflikt lokal einzufrieren, um den Vormarsch des Islamischen Staates (IS) zu stoppen und den Boden für Verhandlungen zu ebnen.
Auf den ersten Blick klingt das alles nicht besonders originell, aber wer genauer hinschaut, erkennt ein paar Chancen. Eine davon liegt in Moskau, allerdings nicht wegen der Konferenz. In der jetzigen Situation sind Gespräche zwischen Regime und Opposition Zeitverschwendung. Präsident Baschar al-Assad weigert sich, Macht abzugeben und kein ernstzunehmender Oppositioneller ist bereit, unter Assads Führung mitzuregieren. Außerdem haben beide Seiten nur begrenzten Einfluss auf den Krieg in Syrien.
Dass den Rebellen im Land egal ist, was eine Nationale Koalition im Ausland beschließt, wissen wir spätestens seit der letzten gescheiterten Syrien-Konferenz im Februar 2014. Inzwischen hat aber auch Assad die auf seiner Seite kämpfenden Kräfte nicht mehr unter Kontrolle. Dem Regime gehen Geld und Soldaten aus.
Assads bröckelnde Allmacht
Abgesehen von wenigen Eliteeinheiten, die dem Präsidenten direkt unterstehen, existiert die Syrisch-Arabische Armee nicht mehr. Die verbliebenen Truppen werden vom Iran gesteuert, daneben kämpfen die libanesische Hisbollah und die National Defense Forces (NDF) – lokale Milizen, die sich aus den Shabiha und konfessionell organisierten Bürgerwehren entwickelt haben. Ihre Anführer sind durch die Verteidigung bestimmter Gebiete und die Einnahmen aus Schmuggel, Schutzgelderpressung und Entführungen zum Teil so mächtig geworden, dass sie Befehle aus Damaskus, die ihren Interessen zuwiderlaufen, schlicht ignorieren. Assads Allmacht bröckelt.
Und genau darin liegt die Chance mit Russland. Denn manch Oppositioneller, der in den vergangenen Wochen nach Moskau reiste, versuchte das den Kreml-Vertretern klarzumachen: Assad kann Syrien nicht stabilisieren, er kann den Terror nicht besiegen und das Land nicht befrieden, weil er nicht mehr "in control", sondern abhängig von anderen ist. Die Tatsache, dass er bestimmte Gebiete halten und manche zurückerobern kann, hat er seinen ausländischen Unterstützern zu verdanken, nicht seinem Rückhalt im Land. Selbst viele Alawiten an der Küste sind es leid, ihre Söhne für Assads Machterhalt zu opfern – wer freiwillig kämpft, tut das nur noch, um in Lattakia und Tartous die eigenen Leute zu beschützen, aber nicht, um Raqqa vom Islamischen Staat zurückzuerobern.
Der Versuch Moskaus, die Opposition zu spalten, um einzelne dazu zu bewegen, bei einer Pseudo-Einheits-Regierung unter Assad mitzumachen, wird (hoffentlich) scheitern. Noch ringen die drei wichtigsten Gruppen – die Nationale Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, das Nationale Koordinierungskomitee für demokratischen Wandel und die Bewegung Building the Syrian State – um einen gemeinsamen Plan. Sie sind sich jedoch einig, dass Assads Rückzug keine Vorbedingung für Gespräche sein kann, sehr wohl aber die logische Konsequenz eines echten politischen Übergangs sein muss.
Schrittweise Umverteilung von Macht
Es ist deshalb an Moskau umzudenken und einzusehen, dass die Rettung des syrischen Staates nicht an Assads Machterhalt geknüpft ist. Im Gegenteil. Wer in Syrien staatliche Strukturen erhalten will, muss sich für eine schrittweise Umverteilung von Macht einsetzen, und zwar nicht im Großen, sondern im Kleinen.
Womit wir beim dritten Thema wären, dem Einfrieren der Kämpfe und den Erfahrungen mit lokalen Waffenstillständen. Staffan de Mistura hat erkannt, dass eine Gesamtlösung des Konfliktes zurzeit unrealistisch ist. Seine Idee, zunächst in Aleppo die Kämpfe einzufrieren, klingt gut – ein Alltag ohne Fassbomben und Scharfschützen wäre für die Bewohner eine große Erleichterung. Allerdings erscheint eine dauerhafte Feuerpause unrealistisch, so lange aus den Erfahrungen bisheriger Waffenstillstände nicht die richtigen Lehren gezogen werden.
Zum besseren Verständnis: In Syrien gibt es landesweit Dutzende von lokalen Initiativen, bei denen zivile Akteure, Rebellen, Regimevertreter, Armee und die genannten NDF in verschiedenen Konstellationen Waffenruhen aushandeln. Mehrere Studien haben in den vergangenen Monaten das Zustandekommen und den Nutzen dieser Abkommen untersucht und kommen trotz unterschiedlicher Thesen zu ähnlichen Schlüssen.
Erstens, die meisten Waffenstillstände werden vom Regime durch Abriegeln, Aushungern und massives Bombardieren eines Gebietes erzwungen. Zweitens setzt das Regime häufig Bedingungen durch, die für lokale Oppositions- und Rebellengruppen einer Kapitulation gleichkommen. Drittens wird die Umsetzung nicht detailliert genug formuliert und von keiner unabhängigen Instanz überwacht, so dass Vereinbarungen nicht erfüllt bzw. gebrochen werden (zu wenig humanitäre Hilfe, unvollständige Evakuierung von Zivilisten, nachträgliche Verhaftung oder Erschießung von Rebellen, erneute Abriegelung). Viertens verhindern oder unterwandern auf beiden Seiten radikale Gruppen oder regionale Unterstützer (Iran, Türkei) einen Einigungsprozess, wenn dieser eigene Interessen gefährdet. Fünftens nutzen alle kriegführenden Parteien die Feuerpause oft nur dazu, sich für weitere Kämpfe zu rüsten. Allen Beteiligten fehlt ein Wille zum Frieden.
Für einen lokal ausgehandelten Waffenstillstand
Dennoch ist der lokale Ansatz richtig. Denn die Bereitschaft, mit dem Feind zu verhandeln und Kompromisse zu schließen, ist bei den kriegsmüden Menschen vor Ort deutlich größer als bei Politikern und Kommandeuren, die weit weg vom Geschehen unrealistische Maximalforderungen stellen und den Konflikt damit verlängern. Außerdem sind die Lebensbedingungen, die gesellschaftliche Zusammensetzung, die politischen wie militärischen Machtverhältnisse in Syrien regional so unterschiedlich, dass es keine allgemeingültige Lösung geben kann.
Von oben verordnete Patentrezepte laufen ins Leere, stattdessen sollten zivile Akteure vor Ort – lokale Komitees, Stadt- und Gemeinderäte, religiöse Würdenträger, einflussreiche Geschäftsleute, Dorfälteste und Stammesführer – gestärkt werden. Denn die Studien haben auch gezeigt, dass Waffenstillstände vor allem dort zustande kommen und das Wohl der Bevölkerung im Blick haben, wo es ausgeprägte zivile Strukturen gibt.
Die Vision, die sich daraus ergibt, sieht so aus. Ein Waffenstillstand wird lokal ausgehandelt, aber von einer neutralen Instanz mit einem robusten UN-Mandat durchgesetzt und überwacht. Diese kontrolliert und finanziert auch die Funktionsfähigkeit von Verwaltung und Infrastruktur. Bürgerämter, Gerichte, Polizei, Umspannwerke, Wasserbehörden etc. arbeiten weiter, werden reformiert oder wiederaufgebaut. Ziel ist es, staatliche Strukturen zu erhalten ohne dass diese vom Assad-Regime vereinnahmt werden. Auf diese Weise erwächst aus einem Waffenstillstand eine glaubwürdige politische Alternative mit einem funktionierenden Alltag und einer wirkungsvollen Botschaft: Verhandlungen lohnen sich!
Solange de Mistura aber davon spricht, Kämpfe einzufrieren, um gemeinsam gegen den IS vorzugehen, hat er die Dynamik der letzten Monate nicht verstanden. Den Terror der Dschihadisten zu bekämpfen und dabei den Terror Assads zu ignorieren, radikalisiert die Syrer – Zivilisten wie Rebellen – nur weiter. Assad trägt die Hauptverantwortung für die Gewalt in Syrien, das Ende seiner Herrschaft darf deshalb nicht aus dem Blick geraten.
Tatsächlich bieten lokale Waffenstillstände die Chance, in kleinen Schritten neue Machtverhältnisse zu schaffen. De Mistura sollte deshalb alles daran setzen, den Weltsicherheitsrat für die Unterstützung dieser Feuerpausen zu gewinnen – inklusive Russland.
Kristin Helberg
© Qantara.de 2015