"Ohne die Türkei wird Europa keine Weltmacht"
Hat die Türkei Ihrer Meinung nach Ihre Hausaufgaben für den EU-Beitritt schon gemacht?
Ümit Boyner: Nein, das hat sie nicht. Die Türkei muss noch vieles nachholen und ist sich dessen auch bewusst. Beispielsweise muss das Bildungssystem erneuert werden; wir brauchen auch einen sozialen Aufbruch. Das sind meiner Meinung nach die wichtigsten Hausaufgaben.
Hat die Türkei ihre Pflichten im sozio-politischen Bereich denn erfüllt?
Boyner: Partizipatorische Demokratie, partei-interne Demokratie, die Position der Frau in der Gesellschaft, Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechte und das Rechtssystem in der Türkei: Es gibt noch viele Bereiche, wo sich etwas ändern muss. Wichtig ist, dass wir uns dieser Probleme bewusst werden und unsere politische Entwicklung abschließen.
Aber daneben gibt es auch andere wichtige Veränderungen in der Türkei. Wir haben begonnen über Themen zu sprechen und zu diskutieren, über die wir vor sechs oder sieben Jahren niemals hätten sprechen können. In dieser Hinsicht bin ich hoffnungsvoll. Wenn wir unsere Hausaufgaben schon alle gemacht hätten, wären wir ohnehin in einer Situation, in der wir sagen würden: "Nehmt uns in die EU auf." Aber soweit sind wir noch nicht.
Und was sollte die EU machen, sollte sie Ihrer Meinung nach nicht mehr auf die Türkei zugehen?
Boyner: Doch, natürlich. Europa muss in bestimmten Bereichen noch enger mit uns kooperieren: Der Zypern-Konflikt ist ein wichtiger Konflikt; mit ihrer Haltung zu diesem Thema hat die EU der Türkei ein falsches Signal gesendet. Aus diesem Grund hat die EU sehr viele Befürworter in der Türkei verloren.
Welche falschen Signale hat die EU in die Türkei geschickt?
Boyner: Dadurch, dass sie einen Teil eines Landes, dessen Grenzverläufe nicht klar geregelt sind, in die EU aufgenommen hat, hat sie den Konflikt zu einem unlösbaren Problem gemacht. Der türkische Bevölkerungsteil Zyperns hat den Annan-Plan akzeptiert, aber der griechische Teil hat für die Ablehnung dieses Plans noch nicht einmal Sanktionen hinnehmen müssen. Im Gegenteil, der griechische Teil wurde sogar in die EU aufgenommen. Die EU könnte sich an der Lösung dieses Konflikts aktiver beteiligen.
Wird die EU die Türkei je als vollständiges Mitglied aufnehmen?
Boyner:Ich denke, sie wird nicht darum herumkommen. Doch hier gilt es, einiges zu überdenken. Zunächst einmal: Wie wird sich die EU weiter entwickeln? Denn in Zukunft kann Europa im Innern entscheidende Veränderungen durchleben. Die Finanzkrise beispielsweise hat Europa erschüttert und dieses Beben wird noch anhalten.
Darüber hinaus gibt es innerhalb Europas viele Meinungsverschiedenheiten. Die Vorstellung darüber, was die EU ist, ist in England anders als in Frankreich und auch anders als die der neuen EU-Mitglieder. Europa erlebt im Inneren einen Expansionsschock.
Um ehrlich zu sein, die Bedeutung der Türkei ist zu groß, um sie nicht aufzunehmen. Und ohne die Integration der Türkei wird die EU nicht zur Weltmacht aufsteigen. Denn die Türkei ist ein strategischer Faktor.
Wenn man sich das politische Geschehen in der Türkei vor Augen führt, kann man dann sagen, dass sich die Türkei auf dem Weg in die EU befindet?
Boyner: Auf welchem Weg soll die Türkei denn sonst sein? Es gibt für die Türkei keine Alternative zur EU. Wenn sie eine internationale politische Zusammenarbeit anstrebt, dann kommt nur Europa in Frage. Aber investiert die türkische Regierung in letzter Zeit ausreichend Arbeit in dieses Projekt? Nein, das kann man nicht sagen. Die Regierung muss die Arbeit daran beschleunigen. Zum Beispiel wird immer noch nicht über das umfassende Dritte Reformprogramm der AKP-Regierung debattiert. Aber ich hoffe, dass nach den nächsten Wahlen dem Thema wieder mehr Bedeutung beigemessen wird.
Wie sehen Sie die Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft?
Boyner: Wenn man sich Statistiken anschaut, beispielsweise zum Thema Frauen auf dem Arbeitsmarkt, sieht es schlecht aus: Gerade mal 23 Prozent der türkischen Frauen gehen einer Erwerbstätigkeit nach. Der EU-Durchschnitt beläuft sich meines Wissens auf 53 Prozent.
Auch bei der politischen Partizipation von Frauen sieht es schlecht aus und das ist ein heftig diskutiertes Thema. Ebenso ist das Bildungsniveau bei Frauen im Durchschnitt immer noch niedrig. Die Rolle der Frau in der Familie wird weiterhin sehr konservativ bewertet. Aber andererseits sehen wir auch, dass es Frauen gibt, die machtvolle Positionen inne haben und diese für die Gesellschaft sehr positiv nutzen.
Auch bei diesem Thema muss die EU besser als bisher mit der Türkei zusammen arbeiten…
Boyner: Deswegen ist die EU so wichtig: Man muss die Frauen besser bilden, man muss ihnen bessere Arbeitsgarantien geben, und auch Chancengleichheit. Das ist ein Teil unserer gemeinsamen Hausaufgaben.
Dabei ist die europäische Sicht auf die türkische Frau nicht immer frei von Vorurteilen…
Boyner: Wenn Europa sich des Themas annimmt, dann werden nur die Ehrenmorde wahrgenommen. Natürlich gibt es dieses Problem in der Türkei, aber nicht jeden Tag werden überall in der Türkei Ehrenmorde verübt. Wenn man sich nur darauf konzentriert, dann fallen andere wichtige Themen wie Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Frauen in der Bildung unter den Tisch. Diese Probleme sind grundlegend.
Wenn wir unsere Zusammenarbeit hinsichtlich von Frauenthemen besser vereinigen könnten, wäre viel gewonnen.
Interview: Hülya Sancak
© Qantara.de 2008
Übersetzung aus dem Türkischen: Nimet Seker
Ümit Boyner ist Vizepräsidentin des Verbandes türkischer Industrieller und Unternehmer (TÜSIAD). Sie ist Vorstandmitglied der Boyner-Holdings, eines der größten türkischen Textilunternehmen. Sie ist Gründerin und Vorstandsmitglied des Vereins KAGIDER (Initiative für Unternehmerinnen). Ümit Boyner hat in New York an der Rochester Universität Wirtschaftswissenschaften studiert und ist mit dem Unternehmer Cem Boyner verheiratet.
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