"Mit dem Koran gegen die verkehrten Muslime"
Herr Azmayesh, letztes Jahr wurde an der Universität Birmingham ein altes Manuskript des Koran gefunden. Was bedeutet dieser Fund für die Koran-Forschung?
Seyed Mostafa Azmayesh: Es ist bekannt, dass der Koran nicht in einer homogenen Sprache geschrieben, sondern in drei verschiedenen Stilen verfasst wurde. Daher gab es viele Debatten über die Quellen des Korans. Es gab sogar die These, dass der Koran erst zwei Jahrhunderte nach der Lebenszeit Mohammeds durch gewisse Gelehrte im Iran zusammengestellt wurde. Doch der Koran in Birmingham und andere Manuskripte zeigen, dass dieses Buch bereits zur Zeit des Propheten existierte. Eine Analyse des Papiers und der Tinte mit Hilfe der neuesten Technologie zeigt, dass der Koran von Birmingham die älteste existierende Ausgabe ist und er zu einer Zeit geschrieben wurde, als der Prophet noch lebte. Diese Entdeckung setzt vielen Spekulationen über den Ursprung des Korans ein Ende. Daher muss man nun eine andere Erklärung finden für die Nicht-Homogenität der Sprache des Koran.
Sie schreiben in Ihrem kürzlich veröffentlichten Buch über den Koran, dass der Prophet in der Tradition früherer monotheistischer Religionen stand und vertraut mit ihren Schriften war.
Azmayesh: Zu Lebzeiten des Propheten waren die meisten Menschen der Arabischen Halbinsel ungebildete, des Lesens nicht mächtige Beduinen. Doch in Mekka und Medina gab es eine gebildete Gemeinde, zu der Mohammeds Familie gehörte. Diese Gemeinde hatte Kenntnis der monotheistischen Religion des Christentums, des Judentums und des Manichäismus, die in Syrien und dem Jemen verbreitet waren. Der Hauptteil des Korans steht in der Kontinuität existierender Texte und Lehren der monotheistischen Meister wie Abraham, Isaak und Ismail. Es bezieht sich auf diese Quellen – nicht notwendigerweise auf die offizielle Bibel, sondern auf eine andere Quelle – wobei es sich laut meiner Forschung um die Schriften von Qumran am Toten Meer handelt.
Sie haben gesagt, dass wenn der Koran zu Lebzeiten Mohammeds verfasst wurde, man eine andere Erklärung für die unterschiedlichen Stile im Koran benötigt. Worin besteht Ihre Erklärung?
Azmayesh: Als Mohammed den Beduinen von den monotheistischen Lehren zu erzählen begann, konnten sie nicht verstehen und akzeptieren, was er sagte. In ihren Augen war Mohammed ein infiltrierter Agent einer der Arabischen Halbinsel fremden Kultur, der ihre Traditionen und Gebräuche ändern wollte. Die Beduinen äußerten zahlreiche Einwände gegen die Lehren Mohammeds, die im Koran in ihrer eigenen Sprache wiedergegeben werden. Daher erkennt man drei verschiedene Stile im Koran: Die reine Lehre Mohammeds, die Einwände der Beduinen und die Antworten Mohammeds darauf. Dies ist der Grund, warum es im Koran keine homogene Sprache gibt.
Ihre These ist also, dass, wenn man den Koran richtig analysiert, man drei verschiedene Teile unterscheiden und so die wahre Botschaft des Propheten erkennen kann?
Azmayesh: Ja, die Kenntnis der drei verschiedenen Teile gibt dem Koran einen relativen Aspekt. Was im Koran steht, ist wichtig, aber man kann nicht gemäß allem im Koran handeln, weil gewisse Teile Einwände der Kritiker des Propheten sind, die letztlich vom Koran selbst verworfen wurden. Die wahre Botschaft kann erkennen, wer die Seele des Korans studiert und begreift.
Wie kann man diese drei verschiedenen Teile des Korans unterscheiden?
Azmayesh: Dies ist sehr einfach, da die Sprache völlig verschieden ist. Die Hauptquelle für uns ist die Sprache des Korans. Die Sprache, die bei den Debatten des Propheten mit seinen Kritikern verwendet wird, ist völlig anders als die Sprache der eigentlichen Lehren Mohammeds.
Sie schlagen vor, sich auf den Koran zu besinnen und die islamischen Traditionen zu vergessen.
Azmayesh: Der Klerus behauptet, dass man den Koran nicht verstehen kann, ohne die sogenannten revayat zu studieren, die Aussprüche des Propheten. Doch wenn sie sich in die revayat vertiefen vergessen sie völlig die Verse des Korans. In den Religionsschulen ist der Koran nur eine heilige Schrift, die gar nicht benutzt wird.
Sie würden daher argumentieren, dass der Koran aus sich selbst verstanden werden kann?
Azmayesh: Natürlich. Der Koran ist Gottes Lehre für die Menschheit und ein Buch, das zu lesen ist wie andere Bücher auch. Die Vorstellung, es könne nicht aus sich verstanden werden, blockiert einen. Dies ist die Folge einer Gehirnwäsche der Prediger, die den Geist blockieren wollen. Der Koran ist offen für alle.
Doch wenn man nichts über den Koran weiß, kann man die wahre Botschaft herauslesen?
Azmayesh: Die aktuelle Forschung erlaubt, viele Dogmen und Hindernisse niederzubrechen, die von Gelehrten wie Mohammed al-Ghazali errichtet wurden, der im Auftrag des Seldschuken-Königs unter dem Namen des Islam eine Ideologie schuf. Er veröffentlichte eine Fatwa, die den Leuten das Denken verbot und die Gläubigen anwies, dem Klerus zu folgen – und dem Klerus, den revayat zu folgen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, das sich von Anbeginn zwei verschiedene Interpretationen des Korans entwickelten und bis heute fortbestehen. Worin bestehen diese beiden Interpretationen?
Azmayesh: Die Leute aus Mekka akzeptierten nicht die Botschaft des Propheten und zwangen ihn, nach Medina zu emigrieren. Als er schließlich siegreich nach Mekka zurückkehrte, waren die Leute gezwungen, zwischen Konversion und Exil zu wählen, so dass viele zum Islam konvertierten. Doch obwohl sie Muslime wurden, änderten sie nicht ihren Glauben und entwickelten ihre eigene Interpretation des Korans. So entstanden bereits in der Zeit Mohammeds zwei gegensätzliche Versionen im Namen des Islam, die sich gegenseitig ablehnten. Alle diese Stammestraditionen wie Steinigung, die Beschneidung von Mädchen, das Abhacken von Händen und die Idee, dass Muslime anderen Menschen überlegen seien, wurden zu dieser Zeit in den Islam eingeführt.
Sie sagen also, dass bereits in der Zeit des Propheten eine fehlerhafte Interpretation des Islam entstand, die Mohammed nicht beseitigen konnte?
Azmayesh: Ja, die frisch konvertierten Muslime, die der Koran Heuchler nennt und die den Stammestraditionen verhaftet blieben und deren Herzen von den Lehren der Zeit der Unwissenheit erfüllt blieben, präsentierten einen Kommentar des Korans, der seiner ursprünglichen Intention widersprach. Sie verübten viele Gräueltaten gegen die Menschen der Arabischen Halbinsel im Namen des Islam. Und dies setzte sich in der Zeit der Omaijaden, der Abbasiden und der Osmanen fort. Es handelte sich um eine Geschichte des Islams, die nichts mit den Lehren Mohammeds zu tun hat. Die gesamte Geschichte des Islams muss daher von Anbeginn revidiert werden.
Was Sie vorschlagen, bedeutet im Grunde, einen Großteil der anerkannten islamischen Lehren und dessen zu verwerfen, was gemeinhin als Islam verstanden wird. Dies ist sehr kontrovers.
Azmayesh: Was heute in der Welt im Namen des Islam geschieht, hat nichts mit den Lehren des Koran zu tun. Daher stelle ich mich mit dem Koran gegen die falschen Muslime und die Leute, die Muslime zu sein behaupten, jedoch die Lehren des Korans nicht kennen. Diese Extremisten greifen zum Beispiel aus dem Koran acht Verse über den Dschihad heraus und kreieren aus diesen Versen ihre eigene Religion. Eine Weltsicht, um andere Länder zu erobern und andere Menschen zu verfolgen.
Was also ist aus Ihrer Sicht "die wahre Botschaft" des Koran?
Azmayesh: Die wahre Botschaft Mohammeds war der Botschaft früherer Propheten sehr ähnlich: Wie kann man die Seele entwickeln, wie kann man ein geistlicher Botschafter werden und wie kann man sein Ich unter Kontrolle bringen? Dies ist die wahre Botschaft des Korans. Der Grund, dass Gott seine Boten geschickt hat, war es, ein Gesellschafts- und Zivilisationsmodell zu schaffen, in dem die sozialen Beziehungen auf Gleichheit beruhen. Das Ziel jedes Propheten war es, das gleiche Modell wiederherzustellen, das zur Zeit Davids und Salomons erschaffen wurde. Wenn wir vom Respekt der Menschenrechte sprechen, denken viele Leute, dies seien moderne Werte, doch in Wahrheit existiert der Respekt der Menschenrechte ganz klar im Koran.
Das Interview führte Ulrich von Schwerin.
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