Studie zu Migranten in Deutschland
Wie schätzen Sie die Studie ein?
Paul Mecheril: Die Studie ist sehr interessant, weil sie die MigrantInnen nicht auf ihre Herkunftskulturen festlegt und eben nicht sagt, die türkischen Menschen sind so, weil sie Türken sind, oder albanischen Menschen sind so, weil sie Albaner sind.
In der Studie steht ein Begriff im Vordergrund: das Milieu.
Mecheril: Die Studie versucht, nicht mit der Herkunftskultur, sondern mit dem Milieu-Begriff zu arbeiten. Sie sagt, dass es unterschiedliche Milieus bei den Menschen mit Migrationshintergrund gibt und dass es sich dabei nicht um türkische, griechische oder albanische Milieu handelt, sondern es gibt zum Beispiel ein intellektuelles Milieu, in dem Menschen mit türkischem, albanischem oder griechischem Hintergrund zusammengefasst werden, also quer die ethnischen Gruppen.
Genauso gibt es andere Milieus, so etwa ein eher konsumorientiertes Milieu, was eben auch nicht ein albanisches oder ein griechisches Milieu ist, sondern ein Milieu, in dem sich Menschen mit griechischem Hintergrund und albanischem Hintergrund usw. finden.
Das finde ich eine sehr gute Perspektive für Menschen mit Migrationshintergrund, weil auf diese Weise der sehr starke Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und ethnischer Kultur etwas aufgelöst wird.
Sie sind trotzdem ein Kritiker der Studie. Warum?
Mecheril: Ich sehe ein paar Probleme, z.B. dass man mit dem Milieubegriff, so wie die Studie ihn nutzt, möglicherweise sehr schnell über Personen Auskunft gibt, das heißt, dass diese Personen klassifiziert werden; als ob man diesen Milieus jetzt alle Menschen zuordnen und sie damit erfassen kann.
Man muss meiner Meinung nach darauf hinweisen, dass das ein wissenschaftliches Bild ist. Wenn ich einem bestimmten Milieu zugehöre, bin ich nicht zwangsläufig so, wie der wissenschaftliche Blick es mir zuschreibt. Da sehe ich eine Art von Determinierung durch den Milieubegriff. Hier finde ich die Studie unangemessen.
Ein zweites Problem sehe ich darin, dass die Studie von einer Art Modernitätslogik in den Milieus spricht. Es wird von archaischen Milieus gesprochen und dann von universell- intellektuellen Milieus. Und diese Entwicklung, vom archaischen hin zum intellektuellen Milieu, halte ich für problematisch.
Kann die Studie Ihrer Meinung nach politisch instrumentalisiert werden?
Mecheril: Dass die Studie politisch rezipiert wird, hängt damit zusammen, dass Politiker meinen, ihnen werde jetzt ein Instrument an die Hand gegeben, mit dem sie Kontrolle ausüben können; mit dem sie beispielsweise die Milieus, die weniger erwünscht sind als etwa traditionelle oder archaische Milieus, besser identifizieren und behandeln zu können, so dass sich diese Milieus leichter auflösen.
Das halte ich für die größte Gefahr, die in dieser Studie enthalten ist, bzw. eine große Gefahr in der Verwertung der Studie durch Kommunalpolitik, Bildungspolitik usw.
Das wichtigste Ergebnis der Studie ist, dass der Einfluss religiöser Traditionen oft überschätzt wird. Stimmt das Ihrer Meinung nach?
Mecheril: Das ist sicher ein wichtiger Satz. Der deutschsprachige Diskurs wird gerade seit dem 11. September, seit dem das Stichwort "Fundamentalismus" im Vordergrund steht, sehr geprägt von der Gleichsetzung von Menschen mit Migrationshintergrund.
Insbesondere Menschen muslimischer Herkunft seien durch ihre Religion bestimmt. Weil sie durch ihre Religion bestimmt sind, gebe es zwei Probleme: zum einen seien sie nicht so modern wie wir, und zweitens stellten sie eine Gefährdung unserer Modernität dar. Das ist sozusagen ein Bild, das immer wieder produziert wird.
Muss man dieses Bild kritisieren?
Mecheril: Es ist ganz wichtig, dass wissenschaftliche Studien dieses Bild kritisieren, und ich glaube, dass die Sinus-Studie das tut. Man muss die Religion und die Religiosität genauer und differenzierter betrachten. Religiosität wird immer mit Rückständigkeit gleichgesetzt, und das scheint gerade in westlichen Diskursen immer dann zu passieren, wenn über die Religiosität der anderen gesprochen wird.
Wenn im westlichen Kontext über die eigene Religiosität gesprochen wird, dann eher im Sinne von: Wir haben eine christlich-abendländische Tradition, die die Aufklärung und die Menschenrechte hervorgebracht hat. Also nicht kritisch, sondern affirmativ bestätigend.
Wenn über die Religiosität der Anderen gesprochen wird, dann sehr schnell im Sinne von: Das ist Fanatismus, Gefahr, Fundamentalismus. Es ist ein anti-moderner Impuls vorhanden, durch den die Individuen gefährlich werden.
Gibt es denn Studien, die das widerlegen?
Mecheril: Es gibt Studien in den Sozialwissenschaften, die genau das Gegenteil zeigen: Dass Religion für Menschen mit Migrationshintergrund, gerade für Mädchen und Frauen, ein Rahmen ist, der ihnen erlaubt, autonom zu werden.
Interview: Hülya Sancak
© Qantara.de 2007
Dr. Paul Mecheril ist Hochschuldozent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld mit den Schwerpunkten Interkulturelle Erziehungs-wissenschaft und Migrationsforschung.
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