Konstruierte Wahrheiten und Zerrbilder
Der Islam steht seit dem Mord an dem niederländischen Regisseur erneut im Blickpunkt der Medien. Dabei lassen viele Berichte über Muslime und deren Religion weniger auf gründliche Recherche und Aufklärung schließen, als vielmehr auf Halbwahrheiten und einen verengten Blick. Eine Analyse von Sabine Schiffer
Glaubt man dem Spiegel und Focus der letzten Woche, dann ist nicht nur "die multikulturelle Gesellschaft gescheitert", sondern auch noch die Quintessenz einer Parallelgesellschaft als vornehmlich islamisch ausgemacht – sprich, der Islam verhindere die Integration.
Glauben kann man den einzelnen Schilderungen zur Situation "der muslimischen Frau" durchaus und dennoch ist der Eindruck, den sie vermitteln, ein trügerischer, weil hier – wie immer und überall – eine Verallgemeinerung stattfindet, die bestimmte Fakten als Stellvertretung für das Gesamte hält.
Es ist richtig und kritikwürdig, dass es manchen muslimischen Frauen übel ergeht, und gegen derlei Rechtsverstöße soll etwas unternommen werden - aber der Bezugspunkt Islam ist dennoch gänzlich falsch gewählt. Oder wie wollen wir ähnliches Verhalten etwa in Lateinamerika erklären sowie das Faktum, dass es familienbestimmte Ehen unter den parallelgesellschaftlich organisierten Chinesen in Deutschland gibt?
Die Eskalation in den Niederlanden hat gezeigt, dass die Verwechslung von Einzeltat und Gruppenzugehörigkeit jederzeit möglich ist – vor allem in einem Kontext, wo schon seit Jahr und Tag die Kategorie "islamisch" mit den schrecklichsten Vorstellungen gefüllt wird - mit Dingen, die es in der weiten islamischen Welt natürlich gibt - genauso wie anderswo auf der Welt -, die aber gewohnheitsgemäß herausgepickt, verallgemeinert und ständig wiederholt werden, bis sie schließlich zur einzigen "Wahrheit" mutiert sind.
Fragwürdige Verknüpfungen
Seit dem 11. September ist eine Zunahme an expliziten Schuldzuweisungen gegenüber Muslimen für verschiedenste Untaten auszumachen. In ihrer Qualität sind diese aber nicht anders, als die lange zuvor bereits ausgemachten und unterschwellig unterstellten Negativa. Genau hierin liegt begründet, dass uns die vielen Behauptungen seither als plausible Beweise erscheinen.
Eine effektive Technik der Verknüpfung unterschiedlichster Bereiche stellt der so genannte Sinn-Induktionsschnitt der Filmtechnik dar, den wir nicht nur bei Dokumentationen Peter Scholl-Latours ausmachen können, wie etwa in einer Sendung "Das Schlachtfeld der Zukunft", in der es neben einem Rundumschlag durch die verschiedensten südsowjetischen Republiken auch zu einer "Explosion in einem Lager russischer Soldaten in Kaspisk" kommt.
Zu sehen sind Bilder von zerstörten Häusern und Räumfahrzeugen. Dann Schnitt: "Und schon fällt der Blick auf eine Moschee, die Sultan Ahmed Moschee, gebaut nach türkischem Vorbild …" Und tatsächlich, unser Blick fällt auf die Kuppel einer Moschee mit Halbmond, deren architektonische Herkunft im Folgenden erklärt wird. Kein Zusammenhang zwischen Moschee und Explosion?
Explizit wird nicht begründet, warum hier implizit und in aller unbemerkten Schnelligkeit die Themen ANSCHLAG und ISLAM miteinander verknüpft werden. Wir wissen bis heute nicht, um welche Art von Explosion es sich gehandelt hat. Und wenn man der Meinung ist, die Explosion habe etwas mit so genanntem islamistischem Terrorismus zu tun, dann muss man dieses eigentlich argumentativ rechtfertigen.
Außerdem wäre im letzten Falle das Symbol für Islamismus gänzlich falsch gewählt: Denn was bleibt uns als Symbol für den Islam übrig, wenn Moscheen, Gebete, Kopftücher und Bärte als Symbole für Islamismus herhalten müssen?
Besonders das Kopftuch hat sich als argumentationsökonomischer Renner erwiesen. Inzwischen reicht es aus, einfach eine Kopftuchträgerin über den Bildschirm huschen zu lassen, und schon scheint alles klar. Eine fest etablierte Assoziationskette wird hier ausgeschöpft, die von der Unterdrückung bis hin zur Unterwanderung reicht und erklärt, warum heute um den Schleier muslimischer Frauen so heftig diskutiert wird.
Auch Printmedien manipulieren
Sinn-Induktion gibt es auch in den Printmedien. Dort können ebenso Bilder, Texte und Bilder oder auch noch so verschiedene Textstücke zueinander montiert werden ohne explizite Rechtfertigung und mit dem gleichen Suggestionspotenzial.
Etwa auf Seite 240/241 in Der Spiegel vom 16.10.2000 gibt es eine Bildermontage, die einen Artikel zum Thema Israel/Palästina illustriert. Ein vergleichsweise großes Bild auf der linken Seite zeigt palästinensische Jugendliche, die Molotowcocktails werfen. Man sieht Flammen, aggressive Stimmung, Angriffslust.
Direkt rechts daneben ist ein ca. 1/3 so großes Bild montiert, das einen israelischen Siedler zeigt, der ein weiß bekleidetes Baby auf dem Arm trägt und es praktisch in Richtung der "Angreifer" hält. Seine Kalaschnikow am Schultergurt wird durch das Baby teilweise verdeckt. Im Vordergrund des Bildes steht die Thematik: unschuldige Siedler(-kinder).
Die zusammen wahrgenommenen Bilder schicken dem Text, wenn ihn denn überhaupt noch jemand liest, eine Botschaft voraus - etwa "aggressive Palästinenser greifen unschuldige Isrealis/Siedler an". Eine klare Schuldzuweisung hat also bereits hier stattgefunden, egal wie differenziert die Darstellung des Artikels eventuell noch ist.
Eine rein textuelle Sinn-Induktion liegt bei folgendem Beispiel aus Frau im Leben 7/93 vor, wo es um die Genitalverstümmelung von Mädchen in Ägypten geht. "[...] Um in Ägypten eine Kampagne gegen die Beschneidung zu starten, müssten zuerst die religiösen Führer von deren Sinnlosigkeit überzeugt werden. Der Islam ist Staatsreligion. Zu ihm bekennen sich 93% der Bevölkerung."
Islam im Visier
Das stimmt alles – und ist schlimm genug -, dennoch hat diese Tradition nichts mit dem Islam zu tun, wie schon ein Blick auf die Verbreitungsländer belegt. Es handelt sich um eine altafrikanische Tradition, die auch in einigen islamischen Ländern Afrikas angewandt wird, ebenso wie in vielen nichtislamischen.
Dass sich dann einige religiöse Einflussträger dies als "islamisch" auf die Fahnen zu schreiben versuchen, belegt noch nicht die Richtigkeit dieser Behauptung. Solche Vereinnahmung durchschauen wir normalerweise nur im eigenen Bereich.
Ein letztes Beispiel aus einem unendlichen Repertoire: als im Herbst 2002 ein Scharfschütze Washington in Angst und Schrecken versetzte, konnten wir nach dessen Verhaftung etwa auf BR 5 hören: "Der zum Islam konvertierte John Allan Muhammad …"
Hierbei handelt es sich eindeutig um einen Verstoß gegen die Presseratsrichtlinie 12.1, die die Nennung von Gruppenzugehörigkeitsmerkmalen, wie Nationalität, Religion usw. im Rahmen der Straftatberichterstattung untersagt, weil genau die Problematik um die Wahrnehmung von Einzeltaten als Gruppenphänomene erkannt wurde.
Bis heute wissen wir nichts über die Motive des Täters von Washington und seines Stiefsohns, dennoch bleibt ein suggerierter Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Menschen und der Religion des Täters bestehen.
Inzwischen kann man von einer gewissen Darstellungstradition sprechen, handelt es sich bei einem Täter um einen Muslim, dann wird das auch erwähnt, egal ob für den Sachverhalt relevant oder nicht. Hier spricht man von Markierung.
Ähnlich erging es einst unseren jüdischen Mitbürgern, und spätestens das sollte uns allen zu denken geben. Erschwert wird diese Erkenntnis allerdings durch das Faktum, dass sich einige Untäter selbst auf den Islam berufen, und es ist für die Nichtmuslime nicht einfach, die Nichtrelevanz des Islam für deren Taten zu durchschauen.
Diese Selbstmarkierung macht es für die jeweils nicht zur Gruppe Gehörigen besonders schwierig, diese unzulässige Vereinnahmung zu durchschauen. Dieses Phänomen ist aus dem antisemitischen Diskurs bekannt.
Platzierung und Reihenfolge
Während im Fernsehen Programm und Sendezeit über die Wichtigkeit und die Zur-Kenntnisnahme eines Beitrags entscheidet, gilt in den Printmedien die Platzierung als Vorgewichter der dargebotenen Informationen. Brisanz lässt den Beitrag auf die Titelseite rutschen, so etwa die Razzien, die seit dem 11. September in Moscheen durchgeführt werden.
Interessant ist nun folgende Beobachtung – hier am Beispiel der Nürnberger Nachrichten ablesbar: Bei einer repräsentativen Auswertung über einige Monate des Jahres 2002 hinweg ergab sich, dass die Ankündigungen von Razzien immer auf die Titelseiten platziert wurden. Der Hinweis auf die Ergebnislosigkeit solcher Razzien fand sich allenfalls im Innenteil oder fehlte ganz.
Obwohl sich die allermeisten Fälle als null und nichtig erwiesen, wurde der Eindruck von einem Bedrohungspotenzial durch Moscheen genährt. Das erklärt auch einen zu konstatierenden Bedeutungswandel der Bezeichnung "Moschee": inzwischen wird sie weniger als Ort des Gebets und der Begegnung als vielmehr als Ort der Verschwörung wahrgenommen.
Metaphern und das Bedrohungsszenario
Bereits aus der Antisemitismusforschung ist bekannt, dass bestimmte Metaphern eine entmenschlichende Wirkung haben und eine Handlungsoption nahe legen können. Denn wenn jemand als gefährliches "Ungeziefer" ausgemacht wird, dann liegt es nahe, sich vor diesem zu schützen.
Benenne ich jemanden immer wieder mit Begriffen aus der Schädlingsterminologie, dann erscheinen Maßnahmen und Handlungen gegen solche "Schädlinge" als Akt der Selbstverteidigung und erscheinen damit legitim – wie dies u.a. Goldhagen herausgearbeitet hat.
In Bezug auf die Muslime ist unter anderem das Konzept KRANKHEIT aktiv. Wenn vom Islamismus als einem "Krebsgeschwür" die Rede ist (Der Spiegel 25.22002: 172f), dann impliziert diese Angst machende Bezeichnung bereits den Ausrottungsgedanken - oder wie würden Sie ein Krebsgeschwür behandeln?
Hier könnte man argumentieren, dass ja korrekterweise vom Islamismus und nicht vom Islam die Rede ist. Das ist richtig. Aber leider müssen wir feststellen, dass das Konzept Islamismus vom Islam selten sauber getrennt wird. Immer wieder gehen Begriffe wie "islamischer Terror", "Moslem-Extremist", "islamistischer Attentäter" usw. wild durcheinander. Auch die französische Presse liefert für die Vermischung eindrückliche Beispiele, wie etwa, wenn vom "Fieber des Islam" (La fièvre de l’islam, L’Express 1.11.2001: Titelseite) die Rede ist, womit sicher Islamismus gemeint ist und welche Putins Außenpolitik entlastet.
Benazir Bhutto widerspricht "dem Islam"
Wenn sich bestimmte Wirklichkeitsausschnitte nicht mehr ignorieren lassen, kommt es häufig zu einer Art Reparatur der etablierten Weltsicht. Dies ist wiederum ein Automatismus, dem wir unterliegen. Fakten, die den üblichen Erwartungen, d.h. den Stereotypen widersprechen, können so schnell und bequem wieder in das stereotype Licht zurückgerückt werden.
Am Beispiel Benazir Bhuttos lässt sich der Mechanismus veranschaulichen: als Bhutto in Pakistan Ministerpräsidentin wurde, widersprach dies der gängigen Erwartung von der Rolle der muslimischen Frau. Um diese "Wahrheit" nicht revidieren zu müssen, wurden folgende Erklärungen abgegeben, warum Frau Bhutto nun doch in dieses Amt gekommen war.
Es wurde hingewiesen auf "das Erbe ihres Vaters", den "Analphabetismus der Leute", auf ihre "Ausbildung in Oxford", welche ihre Errungenschaft als Muslima schon wesentlich schmälerte, und sogar noch auf "Wahlstrategie der Schiiten", deren unterstützendes Verhalten wohl besonders erklärungsbedürftig war.
Alles in allem konnten so viele zurückordnenden Erklärungen angefügt werden, dass die Meinung, dass eine solche Position für eine Frau im Widerspruch zum Islam stünde, nicht in Frage gestellt werden musste. Bhutto war die Ausnahme, und Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel – wovon die vielen Regierungschefinnen im so genannten Westen ja zeugen.
Dies ist wiederum nur ein Beispiel von vielen, und es zeigt deutlich: nicht die Fakten an sich entscheiden über die Wahrnehmung eines Sachverhalts – unsere Ordnung existiert immer schon vorher und ist eine künstliche.
"Was immer sie tun, ist falsch"
Da aber der wohlwollende oder misstrauische Blick darüber entscheidet, wie ein Sachverhalt wahrgenommen – also interpretiert – wird, bedeutet das in Bezug auf die Muslime heute: Was immer sie auch tun, es ist falsch!
Denn der Blick ist ein misstrauischer und dieses Misstrauen lässt alle Anstrengungen in einem bestimmten Licht erscheinen: besteht etwa eine muslimische Frau auf dem Tragen eines Kopftuchs, dann kann dies als Zeichen der Abschottung - ja der Ablehnung - der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft empfunden werden. Legt sie aber das Kopftuch ab, so kann dies wiederum als nur geschicktere Tarnung, Verstellung, Unterwanderungsversuch abgetan werden.
Ähnlich argumentierend konnten wir kürzlich in einer renommierten deutschen Wochenzeitschrift lesen: "Schläfer streben besonders nach Einbürgerung." Wenn aber Integrationswilligkeit als Infiltrationsversuch interpretiert wird, welche positiven Handlungsmöglichkeiten haben Muslime dann noch?
An dieser Stelle müssen wir genau prüfen, ob Forderungen an die Muslime und die in Aussicht gestellten Konsequenzen überhaupt übereinstimmen – wie soeben in der Debatte um Integration wieder völlig vernachlässigt. Umgekehrt gilt es, Muslimen zu vermitteln, dass eine Angst vor dem Islam eher ein Missverständnis, nicht aber böse Absicht ist.
Denn aus den gemachten Beobachtungen lässt sich mindestens zweierlei ableiten: Das vorstellbare Bedrohungsszenario durch den Islam und dessen Vertreter ist ein fataler Mechanismus, der durch einzelne Taten und die Fokussierung darauf immer wieder neue Nahrung erhält. Das bedeutet aber auch gleichzeitig, dass es keine Verschwörung gegen den Islam und die Muslime gibt.
Fakt und Fazit
Dies ist keine beruhigende Information, denn wenn Politiker und Medienvertreter hier nach bestem Wissen und Gewissen handeln, dann ist neben der Aufklärungsarbeit die Fähigkeit zur Selbstkritik nötig, um die Mechanismen zu durchbrechen.
Wie aus der Aufzählung reiner Fakten falsche Schlüsse gezogen werden können, wurde hier deutlich. Das sich Berufen auf reine Faktennennung als ausreichendes Mittel gegen Diskriminierung und dem Schüren von Rassismus reicht niemals aus.
Effektives Handeln gegen eine konfrontative Entwicklung setzt Erkenntnis der ungünstigen Wechselwirkung voraus, um konstruktive Lösungen erarbeiten zu können und dafür benötigen wir Menschen, die bereit sind, den anderen jeweils in seinen – wie auch immer zustande gekommenen – Nöten, Bedenken, Wünschen und Ideen ernst- und anzunehmen und uns nicht von bisherigen Fehlentwicklungen entmutigen zu lassen.
Dies gilt für alle, denn die hier beschriebenen Mechanismen wirken in umgekehrter Richtung leider auch, wo die Politik George Bushs zunehmend "den Westen" vertritt.
Sabine Schiffer
© Qantara.de 2004
Sabine Schiffer ist Medienpädagogin an der Friedrich-Alexander-Universität, Nürnberg/Erlangen.
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