Eine visuelle Sprache der Migration
Berlin-Kreuzberg. Drei Plakate nebeneinander: Pink, blau, gelb. Zwei Figuren stehen sich gegenüber, die eine spricht: "Sind wir anders?". Eine Figur steht mit gesenktem Kopf über ihrem runden Bauch: "Wird es hier zugehören?" Auf dem dritten Plakat: Eine Figur auf einem Globus, die Beine über zwei Kontinente gespreizt, ein gebrochenes Herz.
Hamburg. Ein Plakat auf einer Litfassäule zeigt ein Piktogramm mit einer weiblichen Figur. Sie trägt ein blaues Kopftuch und umarmt lächelnd das Wappen von Hamburg. "Zuhause" steht darunter.
Die schlichte Sprache dieser Piktogramme ist universell und aussagestark. Sie ähneln den Piktogrammen, die man überall auf der Welt im öffentlichen Raum sieht, beispielsweise in Flughäfen. Entwickelt hat sie das Berliner Künstler-Kollektiv Migrantas.
Piktogramme als künstlerische Sprache
"Die Piktogramme sind eine Synthese. Sie erzählen eine Geschichte", sagt Marula Di Como. Die argentinisch-stämmige Künstlerin lebt seit 2002 in Berlin. Sie entwickelte die Piktogramme als Teil ihrer künstlerischen Sprache. Zusammen mit der Grafikerin Florencia Young initiierte sie zunächst "Proyecto Ausländer" mit urbaner Aktion in Buenos Aires, wobei es um die Erfahrungen von Fremdsein in einem anderen Land geht.
2004 gründen sie zusammen mit der Soziologin Estela Schindel, ebenfalls Argentinierin und seit Jahren in Berlin lebend, das Kollektiv Migrantas. Irma Leinauer übernahm in der Folge die Projektkoordination und mit der argentinischen Journalistin Alejandra López setzt sich Migrantas nun aus fünf Frauen zusammen.
Migrantas reflektiert über die Lebensumstände von Migrantinnen in Deutschland. "Das Ziel von Migrantas ist, die Stimme und Gedanken aller Migrantinnen in der Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen", erklärt Florencia Young. Dazu macht Migrantas Workshops mit Migrantinnen. Sie dienen zur Reflexion über die Lebenssituation und Migrationserfahrungen der Teilnehmerinnen. Es finden Diskussionen statt, die Teilnehmerinnen zeichnen ihre Erfahrungen und Emotionen. Aus diesen Bildern entstehen die Piktogramme.
"Keine Terroristin"
Marula Di Como zeigt eine Zeichnung. Es zeigt eine Figur mit einem Dreieck auf dem Kopf. Eine Friedenstaube. Ein Peace-Zeichen. "Keine Terroristin. Wir wollen auch in Frieden leben", schrieb die Zeichnerin darunter. Daraus ist ein Piktogramm entstanden, das eine Figur mit blauem Kopftuch und rotem Lächeln zeigt: "Keine Terroristin".
"Als wir die Zeichnung gesehen haben, fanden wir das unglaublich. Diese Zeichnung repräsentiert das Gefühl all dieser Frauen. Für uns war sofort klar, wie das Piktogramm aussehen würde", erklärt Di Como.
Die Künstlerinnen erstellen eine Synthese aus der Zeichnung und den Aussagen der Frauen. Ist in diesem Fall nicht Interpretation dabei? "Sie hat selbst folgendes gesagt: Wegen des Kopftuchs bin ich die Terroristin, ich bin die andere, ich bin grundschlecht, ich bin der Feind. Und meine Zeichnung will sagen: Ich bin das alles nicht", sagt Di Como. "In diesem Fall hat sie es selbst ganz klar dahin geschrieben. Wir haben daraus eine Synthese gemacht."
Teil der städtischen Landschaft
Die Piktogramme sagen in einem Ausdruck, in einem Wort, was die Frauen fühlen und erleben. Sie treffen eine konkrete Aussage und sprechen so eine eindeutige, unmissverständliche Sprache.
Gezeigt werden sie im urbanen Raum auf Plakaten, Freipostkarten, an Bushaltestellen und in digitalen Animationen auf U-Bahn-Bildschirmen. Migrantas legt großen Wert auf die Sichtbarmachung dieser Bilder im öffentlichen Raum.
"Für uns ist es wichtig, dass die Teilnehmerinnen auch auf der Ausstellung am Ende dabei sind und ihre eigenen Werke sehen können. Für diese Frauen ist das ein sehr wichtiger Tag. Sie sind die Protagonistinnen. Ihre Stimmen werden wahrgenommen und anerkannt", erklärt Florencia Young.
Mit der Forsetzung des Projekts "Bundesmigrantinnen" wird Migrantas ab August 2008 in Köln sein.
Keine Grenzen
Mit "Proyecto Ausländer" hatten Di Como und Young zunächst ihre eigenen Empfindungen über das Fremdsein in Deutschland ausgedrückt. Mit Migrantas ertönen die Stimmen der Migrantinnen im Plural: "Wir als Künstlerinnen können nicht alles sagen. Dafür müssen wir die Migrantinnen sprechen lassen. Wir haben das Projekt erstellt, aber wir sind nur wenige. Wenn mehr Frauen sprechen, dann hat das ein größeres Gewicht", sagt Young.
So stehen die Künstlerinnen mit den Workshop-Teilnehmerinnen auch im persönlichen Austausch, in einem nicht-hierarchischen Dialog: "Es gibt keine Grenze zwischen Persönlichem und Beruflichem. Was wir sehen und hören, ist total unglaublich. Wenn ich zum Beispiel den kurdischen Frauen zuhöre, dann sage ich mir: Ich habe keine Probleme", meint Di Como.
"Wir, die Migrantinnen, sind immer die anderen. Aber das betrifft nicht nur Deutschland und Europa. Es ist ein universelles Phänomen", fährt sie fort.
Berlin ist zu Hause
Das Gefühl der Migration kennen die beiden Künstlerinnen aus Argentinien, das in den 1920ern viele Einwanderer empfing. So stammt ein Teil von Di Comos Familie aus Spanien, der andere aus Italien.
Florencia Youngs Familie dagegen kommt aus Irland, ihre Mutter ist italienisch-spanischer Herkunft: "Wir leben jetzt in Deutschland. Mein Sohn spricht besser Deutsch als Spanisch. Berlin ist unser zu Hause", sagt sie und fährt fort: "Ich denke, man fühlt sich immer fremd, weil man nicht 100 Prozent hierher gehört. Ich bin mit 37 hierher gekommen, und 37 Jahre habe ich anderswo, ein anderes Leben gelebt. Das prägt natürlich. Ich lebe hier und sehe die positiven Dinge an dem "Hier sein", nicht die Schlechten. Jedes Land hat gute und schlechte Seiten, es bringt nichts, sich zu beschweren."
Nimet Seker
© Qantara.de 2008
Dieser Artikel entstand im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Meeting the Other" mit dem Online-Magazin babelmed.net im Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs. Mehr Informationen zu diesem Projekt finden Sie hier
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