Jenseits von Klischees und Kopftuchdebatte
Hadil aus Syrien ist Anfang zwanzig, doch sie hat schon mehr durchgemacht als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Eigentlich wollte die Tochter einer christlichen Familie an der Universität von Aleppo einen B.A. in englischer Literatur machen. Doch 2011 begann die syrische Revolution: Hadil schloss sich dem friedlichen Widerstand gegen das Regime von Baschar Al-Assad an. Sie verteilte Flugblätter, ging auf Demonstrationen, schmuggelte Medikamente.
Nach mehreren Verhaftungen und schlimmen Mißhandlungen im Gefängnis war ihr klar, dass sie aus Syrien fliehen musste, um zu überleben. In einer Nacht- und Nebelaktion floh die Studentin über den Libanon nach Ägypten. Doch der lange Arm des Assad-Regimes erreichte sie auch dort: Mutmaßliche Schergen des Assad-Regimes traten in Kairo ihre Wohnungstür ein, schlugen sie brutal zusammen und drohten ihr Säure ins Gesicht zu schütten.
Hadil floh in ein ägyptisches Kloster. Dort versucht sie nun, ihre zerbrochene Existenz wieder zusammenzusetzen. Sie sei "in einem Jahr um 20 Jahre gealtert" fasst sie ihr Lebensgefühl im Gespräch mit Karim El-Gawhary zusammen. Doch aufgeben will sie nicht.
Das neue Selbstverständnis der arabischen Frau
Die junge syrische Revolutionärin Hadil ist eine von über zwei Dutzend Frauen, die in Karim El-Gawharys Buch „Frauenpower auf Arabisch“ zu Wort kommen. Der in Kairo ansässige langjährige Nahostkorrespondent hat bei seiner täglichen Arbeit nicht nur die politischen Geschehnisse in der Region im Blick. Er zeigt auch ein waches Auge für den rasanten gesellschaftlichen und sozialen Wandel im Nahen Osten und Nordafrika, der besonders deutlich an der veränderten Rolle und dem neuen Selbstverständnis der Frauen zu erkennen ist.
Ob in Ägypten, Libyen, Bahrain, Saudi-Arabien, Palästina oder in Syrien – schon Jahre vor dem Auftakt zu den arabischen Revolutionen traf Karim El-Gawhary bei seinen Recherchen immer wieder auf Frauen, die mutig ihre Präsenz im öffentlichen Leben und ihr Menschenrecht auf gleichberechtigte Teilhabe am politischen Leben forderten.
Die arabischen Revolutionen, die Ende 2010 in Tunesien begannen, haben dieser Emanzipationsentwicklung einen kräftigen Schub gegeben. Viele Frauen – jung und alt – gingen zum ersten Mal auf die Straße, um für Würde, Gerechtigkeit und Freiheit zu demonstrieren.
Dank Karim El-Gawharys Buch machen die Lesenden Bekanntschaft mit beeindruckenden Kämpferinnen und Pionierinnen aus unterschiedlichen Schichten und unterschiedlichen Berufszweigen: die erste Richterin Ägyptens ist ebenso dabei wie eine beherzte LKW-Fahrerin, die ihren 30-Tonnen-Lastwagen durch die Wüste steuert. Die Aktivistin und Bloggerin Zeinab Al-Khawaja aus Bahrain geht für ihre Ideale immer wieder monatelang ins Gefängnis und ist so zu einem Sprachrohr der Bürgerrechtsbewegung in dem kleinen Inselstaat im Arabischen Golf geworden.
Welche Kopfbedeckung die Porträtierten bevorzugen, war für Karim El-Gawhary beim Abfassen seines Buches kein Kriterium. Zwar tragen die meisten der im Buch porträtierten Frauen ein Kopftuch. Aber: "Es ist wichtig, was wir im, nicht was wir auf dem Kopf haben", bringt die Unternehmerin Magdoulin Obeida aus Libyen es auf den Punkt.
Auch wenn das Buch hauptsächlich von Powerfrauen erzählt, so enthält es nicht nur Erfolgsgeschichten. Es geht auch um Rückschläge, Rückschritte und traumatische Verlusterfahrungen. Ein Beispiel dafür ist die Reportage über zwei Mütter, die unter unklaren Umständen ihre Söhne verloren haben.
Der Sohn der einen wurde getötet, als in einem Fußballstadion nach einem Match die Fans der einen Mannschaft brutal auf die andere losgingen. Der Sohn der anderen sitzt in einem Gefängnis in der Todeszelle und wartet auf seine Hinrichtung, weil er an eben jenem Tag auf demselben Fußballplatz einen gegnerischen Fan ermordet haben soll.
Verflogene Revolutionseuphorie
Einige der Porträts im Buch entstanden mehrere Jahre vor dem Beginn der arabischen Revolutionen. Andere Begegnungen fanden unmittelbar zu Beginn der Revolutionen in Ägypten und Libyen statt. Die Euphorie, der Elan und der Optimismus von Ende 2010/Anfang 2011 sind mittlerweile weitgehend verflogen. Die wachsende Bedeutung religiös-politischer Bewegungen, Konterrevolution und zunehmende politisch motivierte Gewalt haben zu verbreiteter Skepsis und Pessimismus geführt.
Karim El-Gawhary greift diese aktuellen Entwicklungen, wo immer es möglich ist oder sich anbietet, durch Nachträge auf. Er beschreibt ausführlich die zunehmende sexualisierte Gewalt gegen Frauen auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, und er schildert wie die Frauen sich zur Wehr setzen. Oder die Geschichte der ägyptischen Universitätsdozentin, die in den ersten Monaten der Revolution zur Dekanin gewählt wurde, die aber mittlerweile wieder abgesetzt wurde und die frustriert zur Kenntnis nehmen muss, dass der Kampf um Demokratie und Gleichberechtigung sehr lang und schwierig sein wird.
Das Buch veranschaulicht eindrucksvoll den Wandel der Geschlechterbeziehungen und des Frauenbildes in der arabischen Welt. Zwar hat es manche Rückschläge bei der politischen Beteiligung von Frauen gegeben. Doch Behauptungen, die Revolutionen seien gescheitert, hält der Autor nicht für angemessen: "Es ist ein langfristiger Prozess des Wandels in Gang gekommen, der uns noch Jahre beschäftigen und der nicht geradlinig verlaufen wird", schreibt El-Gawhary abschließend.
"Ein politischer Konflikt zwischen Islamisten und Liberalen, der von den Diktatoren jahrelang unter Verschluss gehalten wurde, ist nun umso heftiger ausgebrochen. Für die Entwicklung der Gesellschaft von zentraler Bedeutung, lässt sich diese Konfrontation nicht vermeiden. Im Gegenteil: Sie ist überfällig, um das Verhältnis von Religion und Staat gesellschaftlich in einer freieren politischen Atmosphäre auszuhandeln – Ausgang offen."
Martina Sabra
© Qantara.de 2013
Karim El-Gawhary: "Frauenpower auf Arabisch: Jenseits von Klischee und Kopftuchdebatte", Verlag Kremayr & Scheriau 2013, ISBN-13: 978-3218008792
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de