26 Minuten Elend
"Zwischen der Hoffnung, die in unseren Herzen wohnt und unseren Träumen, die mit unseren Gedanken fliehen, herrscht heute Dunkelheit. Sie hat alles Schöne ausradiert", schreibt Ibrahim Kharabishi. "Die Träume sind verloren, an ihre Stelle sind Leid und Kummer getreten. Zwischen den Verwundeten, den Toten, den Versehrten, gibt es nur noch die Hoffnung, einfach zu überleben."
Nasreen und die Kinder waren zwischenzeitlich mit ihrem Onkel in den Süden nach Deir El-Balah geflohen. Ibrahim war in Gaza-Stadt geblieben, weil er seine Eltern nicht allein lassen wollte. Als der Onkel in Deir El-Balah direkt neben Nasreen erschossen wurde, kehrte sie wieder mit den Kindern nach Gaza zurück.
"Es gab viele schwere Momente, als die Familie umsonst von einem Ort zum anderen geflohen ist. Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen", schreibt Ibrahim. Er hat den Auszug aus seinem Tagebuch via dem Nachrichtendienst WhatsApp geschickt. Mit ihm zu telefonieren ist schwierig und selbst das Internet funktioniert nur sporadisch in Gaza. Am besten kommuniziert man durch Sprachnachrichten mit ihm. Er hat eine Sprachnachricht gesendet, die 26 Minuten lang ist. Es sind 26 Minuten der Beschreibung des Elends seiner Familie, das exemplarisch ist für viele andere Schicksale im nördlichen Gazastreifen.
"Um ehrlich zu sein, es müsste für unsere Situation einen anderen Ausdruck als katastrophal geben. Wir leben in einer Mischung aus Angst, Hunger und Durst, gepaart mit einer totalen psychischen Erschöpfung."
Seine Beschreibung gibt der Warnung des Welternährungsprogramms (WFP) vor einer unmittelbar bevorstehenden Hungersnot im nördlichen Gazastreifen einen sehr persönlichen Kontext. Die ersten beiden Monate hätten sie gegessen, was im Haus gelagert und was noch in den Geschäften zu kaufen war. Dann begannen sie, weniger Mahlzeiten am Tag zu servieren.
Verzweifelte Suche nach Essbarem
Schließlich wurde die Menge des Essens bei den verbliebenen Mahlzeiten reduziert. "Unsere Mahlzeiten bestehen heute aus Kräutern und anderem Grün, das gerade in Saison ist, wie wildem Mangold, und manchmal ein paar Zitrusfrüchten. Wir kochen das und das kommt dann auf unsre Teller. Es ist nicht wirklich nahrhaft, aber es gibt uns wenigstens das Gefühl, etwas zu essen“, erzählt er.
An anderen Tagen durchstreifen sie verzweifelt die Häuser, die zerstört sind oder von den Bewohnern verlassen wurden, die in den Süden des Gazastreifens geflohen sind. Sie suchen in den Küchen und Vorratskammern der verlassenen Häusern nach irgendetwas Essbarem. "Manchmal finden wir etwas Mehl auf dem Boden, das mit Sand vermischt ist. Daraus backen wir dann einen sandigen Brotfladen", erzählt der Anwalt.
Seine Familie und er sind zu erschöpft, um zu einer jener Stellen zu gehen, an denen Hilfslieferungen aus der Luft abgeworfen werden. "Ich habe nicht die Energie, um dort mit Zehntausenden anderen darum zu kämpfen, etwas abzubekommen", sagt er. Manches werde dann später zu astronomischen Preisen angeboten. Statt für 10 Dollar wird dann ein Sack Mehl schon einmal für 1000 Dollar feilgeboten.
Den größten Schmerz bereitet dem 33-Jährigen das Schicksal seiner Kinder. "Wir geben ihnen die größeren Portionen, damit sie aufhören, vor Hunger zu schreien und zu weinen". Das hielten Eltern nicht aus. "Manchmal schreien sie die ganze Nacht und ich mache mich auf die Suche, um irgendetwas zu finden, das sie beruhigt", sagt er und fügt hinzu: "Manchmal wünsche ich mir, dass uns jemand den Gnadenschuss gibt, irgendeinen schnellen Tod, statt dieses langsame Verhungern.“
"Das Wasser stinkt"
Seine Frau Nasreen sei im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft. Sie sei abgemagert. Das letzte Mal sei sie vor sechs Monaten in einer Arztpraxis gewesen. Dann haben sie es vor kurzem doch geschafft, einige der notwendigen Untersuchungen zu machen.
Die Ergebnisse sind schlecht, so lautete die Diagnose des Arztes. Er verschrieb ihr Vitamine, Kalzium und Eisen-Präparate, wohlwissend, dass es im Gazastreifen nichts davon gibt. Hoffnung und Geduld seien das einzige Rezept, das sie derzeit in Gaza einlösen könnten. Das Beste habe der Arzt gesagt, sei ohnehin eine angemessene Ernährung.
Mangelnde Medikamente sind auch ein großes Thema für Ibrahims Eltern, die bei ihm leben. Beide leiden unter Bluthochdruck und Diabetes. Zunächst nahmen sie eine statt zwei Pillen nur noch eine am Tag, heute gibt es vielleicht eine Tablette, wenn die Symptome zu stark werden. Inzwischen kann Ibrahim auch nichts mehr kaufen. Das gesamte Ersparte des Anwalts ist aufgebraucht. Neues Geld zu verdienen sei praktisch unmöglich.
Die Beschaffung von Trinkwasser sei eine enorme Herausforderung. Das vorhandene Wasser sei wegen der Nähe zum Meer versalzen und aufgrund der zerstörten Infrastruktur mit Abwasser versetzt. Vor dem Krieg hätten sie dieses Wasser aus dem Hahn noch nicht einmal zum Kochen verwendet.
Heute müsse er ungefähr fünf Kilometer weit gehen, um einen Wasserkanister zu füllen, berichtet Ibrahim. Das sei nicht nur gefährlich, weil der Brunnen in der Nähe der Stellungen der israelischen Armee liege. "Um ehrlich zu sein, das Wasser stinkt, es ist trüb und es schwimmt allerlei Getier, wie Würmer, darin. Bevor wir es trinken, filtern wir es durch ein Stück Stoff".
Der mentale Zustand der Menschen sei katastrophal. "Demenz sowie alle Arten von Psychosen und Depressionen sind weit verbreitet", erzählt Ibrahim. Oft sehe er, wie vor allem Menschen mit besserer Bildung ziellos durch die Straßen ziehen. "Ihr Kopf hält das nicht mehr aus. Sie haben buchstäblich ihren Verstand und ihr Gedächtnis verloren", sagt er.
Die Kinder leiden am meisten
Der für ihn persönlich schlimmste Moment war, als er vor ein paar Tagen doch zu einem der Orte ging, an denen Nahrungsmittel aus der Luft abgeworfen werden. Die Kinder waren so hungrig.
"Auf einen Mann direkt neben mir wurde geschossen, wahrscheinlich von einem Scharfschützen. Der Mann war verletzt. Ich stand hinter einer Betonsäule und rührte mich nicht vom Fleck, weil ich Angst hatte. Er lag da und verblutete. Er zitterte, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab."
Ibrahim habe ihn von seinem Versteck aus nur angestarrt. "Diese Szene verfolgt mich bis heute. Mein moralischer Kompass sagte mir, geh und rette ihn, aber meine Angst hielt mich auf", sagt er.
Schon vor einem Monat warnte die UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF davor, dass die Kinder in Gaza eine mentale Gesundheitskrise erleben und dringend psychologische Hilfe bräuchten. Viele litten unter Angstzuständen. Auch Ibrahim erzählt, dass sich seine Kinder immer wieder vor Angst einnässen. Er endet seine Sprachnachricht mit seiner größten Sorge, seinem vierjährigen Sohn.
"Seit den Bombardierungen hat mein Sohn begonnen, merkwürdige Geräusche zu machen, mit den Augen zu rollen und Grimassen zu schneiden. Sein Hirn schickt verwirrende Signale an seine Nerven. Ich nehme alle meine Kraft zusammen, und sage ihm, es ist vorbei, du brauchst vor nichts mehr Angst zu haben. Er sitzt auf meinem Schoss und ich halte ihn fest an mich gedrückt, um seine Bewegungen zu kontrollieren. Ich fürchte, auch er verliert langsam seinen Verstand“, mit diesen Worten endet seine Sprachnachricht.
Der ebenfalls auf WhatsApp mitgeschickte Auszug aus seinem Tagebuch schließt mit den Sätzen: “Lieber Gott, ich wundere mich: Weiß die Welt, dass wir hungrig sind? Ist mein Schreien laut genug, um irgendjemandes Gewissen in Bewegung zu setzen? Wie kann das Schreien meiner Kinder für irgendjemanden ein Sieg sein?“
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