Zwischen zwei Beben
Der Wertverfall der türkischen Lira ist an den Wechselstuben auf der Istiklal-Straße mittlerweile im Tagesrhythmus abzulesen. Auch das verheerende Erdbeben in Ostanatolien ist noch in aller Munde. Der Blick der Türken jedoch ist nach vorne gerichtet, auf den 14. Mai, das Datum der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Fast alle, mit denen man redet, machen sich Hoffnung auf einen Regierungswechsel. Ob er kommen wird oder nicht, das politische Beben wird gewaltig sein.
Nimmt man das großartige 42. Istanbuler Film-Festival zum Maßstab, das am 18. April mitten im Ramadan zu Ende ging, schaden all diese Widrigkeiten weder der Freude am Kino, noch leidet die cinematographische Schaffenslust darunter. Eher scheint das Gegenteil der Fall: Die schwierigen Umstände liefern vielen Filmen erst den passenden Hintergrund, schärfen ihre Aussage. Davon profitierten vor allem die Beiträge, die an der Schnittstelle von Europa und Asien verankert sind.
Fünfzig deutsche Filme?
Fünfzig deutsche Filme seien auf dem Festival gelaufen, behauptete die Vertreterin von "German Films“ auf dem Frühstücksempfang des Goethe-Instituts am Festivalsamstag. Aber das war Augenwischerei. Fünfzig Filme mit deutscher Beteiligung sind noch lange nicht fünfzig deutsche Filme. Einige der besten Beiträge überhaupt waren deutsch-türkische, deutsch-kurdische, deutsch-iranische Produktionen, während die "rein“ deutschen Filme vor dem harten Istanbuler Hintergrund eher versponnen wirkten.
Exemplarisch für die deutsche Weltabgewandtheit sind die Probleme unserer Schriftsteller mit ihren neurotischen Partner: Etwa Max Frisch (Ronald Zehrfeld) und Ingeborg Bachmann (Vicky Krieps) in Margarethe von Trottas Bachmann-Biopic "Reise in die Wüste“.
Oder der angehende, mit seinem Manuskript hadernde Autor Leon (Thomas Schubert) und die von einer magersüchtigen Paula Beer gespielte Germanistikstudentin Nadja in Christian Petzolds "Roter Himmel“.
Von Istanbul aus betrachtet scheint der deutsche Film in der "neuen Subjektivität“ der achtziger Jahre stehen geblieben. An der neuen globalen Realität scheitert er kläglich.
Welch ein Unterschied zu den "deutschen“ Filmen, hinter denen eben nicht nur und nicht vor allem deutsche Köpfe steckten!
Fatih Akin gelingt mit "Rheingold“, der filmischen Nacherzählung des abenteuerlichen Lebens des deutsch-kurdischen Gangster-Rappers Giwar Hijabi aka "Xatar“ der Spagat zwischen fernsehtauglichem Mainstream, guter Unterhaltung und ausreichend Authentizität im migrantischen Milieu.
Ästhetisch strenger und künstlerischer sind die zwei anderen herausragenden türkisch-deutschen Produktion auf diesem Festival gewesen: "Ararat“ von Engin Kundağ und "Im toten Winkel“ der heute in Berlin lebenden Ayşe Polat.
In der Überwachungsgesellschaft
"Im toten Winkel“, in Istanbul als bester türkischer Film ausgezeichnet, ist ein als Thriller verkleidetes politisches Drama: eine Reflexion über vererbte Traumata, die Paranoia einer Überwachungsgesellschaft und politische Gewalt. Schauplatz ist die kurdisch geprägte Stadt Kars in der Nordosttürkei, im Mittelpunkt steht die Familie eines türkisch-nationalistischen Agenten, der während der Überwachung eines deutschen Filmteams selbst verfolgt, überwacht und bedroht wird.
Eine der Hauptrollen spielt die erst siebenjährige Çağla Yurga, die in der Rolle von Melek, der Tochter des Agenten, eine magische Präsenz entwickelt. "Melek“ (übersetzt "Engel“) scheint von Visionen heimgesucht. In Wahrheit agiert sie die Paranoia aus, die von Verfolgung und Überwachung hervorgebracht wird und die alle anderen verdrängen.
Kaum je hat man ein Kind in einem brandaktuellen politischen Film so glaubwürdig spielen gesehen. Die Repression, die am Ende unweigerlich auf die Unterdrücker selbst zurückschlägt, ist in dieser komplexen politischen Parabel subtil und doch unverhohlen in Szene gesetzt. Zugleich reflektiert das Kino hier über die Gewalt, die vom Kamera-Auge ausgehen kann, hinterfragt also das eigene Medium. Fast ein wenig erstaunlich, dass der unter anderem von ARTE geförderte Film in Istanbul problemlos gezeigt werden konnte. Hoffen wir nur, dass er es auch auf die deutschen Leinwände schafft.
Umkehr der Machtverhältnisse
Ganz anders, aber nicht weniger kraftvoll, funktioniert Engin Kundağs "Ararat“. Die Eltern der in Deutschland studierenden Zeynep (Merve Aksoy) haben am Berg Ararat in der Osttürkei in einen Steinbruch investiert.
Nach einem von Zeynep provozierten Autounfall in Berlin flieht sie voller Aggression zu ihren Eltern, seziert deren zerrüttete Ehe und kehrt die traditionellen, patriarchalen Machtverhältnisse um: Statt die Strafpredigt des Vaters zu ertragen, schlägt sie — im wörtlichen Sinn — zurück. Den Kollegen des Vaters, der ein Verhältnis mit ihrer Mutter hat, stellt sie zur Rede und scheut sich nicht, ihn auch sexuell zu demütigen.
Der Name des Ararat lautet auf Türkisch "Ağri“ – nichts anderes als das türkische Wort für Schmerz. Der aus der kahlen Landschaft aufragende ehemalige Vulkan mit dem sprechenden Namen steht für den Schmerz und die Wut, die aus der Zerrissenheit so mancher türkisch-deutscher Lebensentwürfe unvermittelt hochkochen kann. Das wird in diesem Film in fast quälend langen, regungslosen Kameraeinstellungen ins Bild gesetzt. Viel geredet wird dabei nicht und es passiert auch nicht viel. Aber das Wenige hat eine unerbittliche Wucht, die lange bei den Zuschauern nachhallt.
Deutsch-iranische Filme
Auf dem beeindruckend politischen Festival wurden nicht nur deutsch-türkische, sondern auch deutsche-iranische Filme gezeigt. "Sieben Winter in Teheran“ von Steffi Niederzoll ist die dokumentarische Nacherzählung des Schicksals von Reyhaneh Jabbari: Sie erstach den Mann, der die damals Neunzehnjährige unter Vorwänden in seine Wohnung lockte und zu vergewaltigen versuchte.
Die Todesstrafe, zu der sie verurteilt wurde, muss in Iran von der Familie des Opfers vollzogen werden, kann von dieser aber auch aufgehoben werden. Nach sieben quälenden Jahren mit ergebnislosen Verhandlungen zwischen den Familien wurde Reyhaneh Jabbari am 25. Oktober 2014 hingerichtet.
Niederzoll schafft es, aus heimlich aufgenommenen Handyvideos der Familie und mit Hilfe von Interviews und nachgebauten Kulissen diesen brutalen, aber in der Praxis kaum filmbaren Aspekt der iranischen Realität sichtbar zu machen.
Da sie nicht ins Land fahren konnte, war sie auf die Zusammenarbeit mit Freundinnen und Aktivisten in Iran und unter Exiliranern angewiesen. So ist gleichsam unter der Hand eine bewegende deutsch-iranische Koproduktion entstanden, wobei die iranischen Unterstützerinnen und Unterstützer aus Sicherheitsgründen leider nicht namentlich genannt werden konnten.
Iranische Holocaust-Verfilmung
Der zweite iranische Film, der für Furore sorgte, ist zwar eine rein iranische Produktion, hat jedoch einen abgründigen Bezug zur deutschen Geschichte. In Istanbul als bester internationaler Film ausgezeichnet, ist "World War III“ von Houman Seyyedi zunächst ein Sozialdrama. Hauptfigur ist der Tagelöhner Shakib (Mohsen Tanabandeh), der angeheuert wird, um ein Filmset mit aufzubauen, und zwar ausgerechnet die Kulissen für eine Holocaust-Verfilmung.
Als der Hitler-Darsteller plötzlich stirbt, soll Shakib die Rolle des Diktators spielen. Er sträubt sich zunächst, kann sich aber gegen den Druck der Crew nicht wehren. Als er seine Freundin, die taubstumme Prostituierte Ladan (Mahsa Hejasi), in dem Kulissenhaus versteckt, das er während der Dreharbeiten bewohnt, geht das Haus, wie im Drehbuch vorgesehen, in Flammen auf.
Ladan verbrennt, aber niemand will Shakib glauben schenken und ihren Tod wahrhaben, geschweige denn Verantwortung dafür übernehmen. In seiner Verzweiflung nimmt der unfreiwillige Hitler-Darsteller seine Rolle wörtlich und die Gerechtigkeit in seine eigene Hand, mit entsprechend massenmörderischem Resultat.
Parabel auf den Zustand der Welt
Dieser Plot spielt sich mit der Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie ab und erscheint zugleich als das zwangsläufige Resultat einer kaputten Gesellschaft. Der Faschismus kehrt nicht unter dem Deckmantel des Islam wieder, sondern entsteht aus den krassen wirtschaftlichen Ungleichheiten, politischen Zwängen, und gesellschaftlichen Machtverhältnissen.
Der Film ist eine großartige Parabel nicht nur auf den Iran, sondern auf den Zustand unserer Welt insgesamt. Schein und Wirklichkeit, Fiktion und Realität gehen auf unkontrollierbare Weise ineinander über und am Ende gibt es niemanden mehr, der dafür noch die Verantwortung übernehmen könnte.
Das Festival wurde vom Publikum überragend aufgenommen. Die weitaus meisten Filme waren ausverkauft. Wo es in Hollywood, Cannes oder Berlin oft um Glamour geht, ging es in Istanbul ums Ganze. So schön kann der Schein hier gar nicht sein, dass er die Realität noch überblenden könnte. Statt als Illusionsmaschine zu dienen, gerät das Kino zum Instrument der Entschleierung der Realität.
Wenn wir auf vielen Festivals inzwischen dieselben Filme sehen, lohnt es sich doch ganz besonders, sie in Istanbul zu sehen. Werden sie auf anderen Festivals nur gezeigt, müssen sie hier die Probe auf die Wirklichkeit bestehen. Erst hier zeigen sie, was sie können — oder eben vielleicht auch nicht.
Überschneidung mit der Realität
Am Ende des samstäglichen Frühstücks im Goethe-Institut, auf dem von fünfzig deutschen Filme die Rede war, konnte man auf der berühmtem Einkaufsmeile der Istiklal-Straße, einen Steinwurf vom Goethe-Institut entfernt, einer kleinen Demonstration beiwohnen. Es waren die "Samstagsmütter“, die jede Woche an ihre vom Staat verschleppten und verschwundenen Söhne erinnern und die auch Ayşe Polat zu ihrem Film inspiriert haben.
Damit keiner der Passanten auf die Idee kommt, sich ihnen anzuschließen, wurden die Mütter von einem Cordon schwer bewaffneter Polizisten von den Menschenströmen in der Fußgängerzone abgeschottet. Innerhalb des Cordons hatten sieben Polizisten einen zweiten, viel engeren Kreis um einen einzelnen, kaum sichtbaren Demonstranten gebildet. Es war der an den Rollstuhl gefesselte Musa Piroğlu, Parlamentsabgeordneter der den Kurden nahestehenden Demokratischen Volkspartei HDP.
Was am Abend zuvor noch in den Filmen gezeigt wurde, schien plötzlich auf der Straße weitergespielt zu werden. Fiktion und Realität treten in Istanbul in einen Dialog voller Spannungen, Überraschungen und Erkenntnisse. Sie haben dieses 42. Istanbuler Filmfestival stark und einzigartig gemacht.
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