Arbeit am kollektiven Gedächtnis
Frau Shehab, welche persönlichen Erfahrungen haben Sie und Ihr Co-Autor in das Buch "A History of Arab Graphic Design“ eingebracht?
Bahia Shehab: Bereits 2011 hatte ich einen Kurs über die Geschichte des arabischen Grafikdesigns für unseren Studiengang an der Amerikanischen Universität in Kairo (AUC) geplant. Wir mussten dann feststellten, dass es kein Lehrbuch für einen derartigen Kurs gab. Er war aber bereits in den Lehrplan eingetragen. Als mein jetziger Kollege Haytham Nawar in unsere Fakultät eintrat, entstand daher die Idee, gemeinsam ein Lehrbuch zu erarbeiten.
Unser erstes Treffen fand in meiner Bibliothek zu Hause statt. Als er meine Regale betrachtete, musste er lachen und sagte: "Wenn du mich Zuhause besuchst, wirst du meine Reaktion verstehen!“ Unsere Bibliotheken waren tatsächlich fast identisch. Wir interessierten uns im Grunde für die gleichen Themen. Als wir uns schließlich an der AUC trafen, stellten wir fest, dass wir beide bereits unabhängig voneinander an einem Lehrbuch gearbeitet haben. Das war ein guter Anlass, Zeit und Ressourcen zusammenzulegen.
Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben? Hatten Sie dabei vor allem Ihre Studierenden im Blick oder auch junge Grafikdesigner?
Bahia Shehab: Wir mussten den Kurs zunächst ohne Lehrbuch unterrichten. Daher hofften wir, unser Buch könnte einerseits als Lehrmaterial für die Studierenden dienen, aber auch für alle Dozenten, die die Geschichte des arabischen Grafikdesigns unterrichten. Sozusagen als Bezugspunkt, auf dem sie aufbauen können.
Das war die wesentliche Motivation für unsere gemeinsame Arbeit. Der Kurs war der Ausgangspunkt, aber unser gemeinsames Interesse an denselben Themen hat die Arbeit am Buch dann vorangetrieben.
Was genau bezeichnet "Grafikdesign“ Ihrer Meinung nach? Im Netz wird es beispielsweise als eine "Form der visuellen Kommunikation" definiert. Haben Sie eine bessere Definition zur Hand?
Bahia Shehab: Was "Grafikdesign“ überhaupt ist, wird immer fluider. Die Welt des Designs befindet sich derzeit im Umbruch. Designer befassen sich nicht mehr allein mit der Grafik oder der visuellen Kommunikation eines Mediums.
Sie machen sich auch Gedanken darüber, wie ihre Grafik von der Zielgruppe genutzt wird und ob sie diese überhaupt erreichen.
Die Aufgaben der Designer entwickeln sich weiter. Im Grafikdesign liegt der Schwerpunkt aber immer noch auf der visuellen Kommunikation.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben die meisten Künstler als Grafikdesigner gearbeitet. Sie entwarfen Kalender, Verpackungen, Plakate und vieles mehr. Damals gab es noch keine klar definierten Aufgaben für Grafikdesigner und keine spezifische Nachfrage.
Nach den beiden Weltkriegen wuchs mit zunehmender Industrialisierung der Bedarf an Massenkommunikation. Damit war der Grundstein für das Grafikdesign nach unseren heutigen Vorstellungen gelegt.
Was unterscheidet Grafikdesign von Kunst? Ist das im arabischen Raum anders als etwa in den USA?
Bahia Shehab: Das Verhältnis zwischen Kunst und Grafik ist im arabischen Raum ungefähr so, wie wir es aus Europa oder den Vereinigten Staaten kennen. Allerdings sind arabische Designer oft ursprünglich Künstler, die Designaufträge annehmen und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Viele der von uns befragten Designer haben daher ihre Werke nicht dokumentiert. Für sie ist Grafikdesign einfach Arbeit.
Neue Entwicklungen im arabischen Grafikdesign
Wie der Einleitung zu entnehmen ist, wollten Sie sich ursprünglich auf Grafikdesign in den arabischen Ländern konzentrieren, haben sich aber dann entschlossen, auch die arabische Diaspora mit einzubeziehen. Wie haben Sie das Projekt letztlich eingegrenzt?
Bahia Shehab: Unser Buch spiegelt die Wirklichkeit der arabischen Welt. Sei es wegen der Lage in Palästina, des Bürgerkriegs im Libanon, der Invasion im Irak oder der Zerstörung in Syrien: Aufgrund der politischen Lage leben viele Künstler und erfolgreiche Designer heute im Exil. In fast allen Ländern, die wir besucht haben, stießen wir auf das gleiche Muster: Die Künstler sind aus politischen Gründen oder wegen der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgewandert und haben sich woanders niedergelassen.
Für die künstlerische Erzählung in der Region bleibt ihre Arbeit aber nach wie vor unverzichtbar. Daher war es unmöglich, das Buch zu schreiben, ohne ihre Arbeit zu würdigen. Es war unmöglich, das arabische Grafikdesign geografisch auf die arabische Welt einzugrenzen. Das war insofern befreiend, da wir nicht mehr auf das Gebiet zwischen Marokko und Irak beschränkt waren. Wir konnten jeden interviewen, dessen Arbeit wir für das Grafikdesign als Ganzes für einflussreich und wichtig hielten.
Wo liegen die größten Lücken beim Archivmaterial und beim Wissen der Menschen über arabisches Grafikdesign?
Bahia Shehab: Die Lage beim Archivmaterial ist so absurd, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Viele Designer haben ihre Arbeiten nicht aufbewahrt. Offenbar hält es auch keine staatliche Institution für nötig, diese Arbeiten aufzubewahren. Wir haben nicht einmal ein arabisches Designmuseum, geschweige denn ein Designarchiv.
Gibt es falsche Vorstellungen, die erst einmal geklärt werden müssen, bevor wir uns mit arabischem Grafikdesign beschäftigen?
Bahia Shehab: Niemand weiß so recht, wo er anfangen soll. Wir sollten den Menschen zunächst erklären, was arabisches Design ausmacht. Ich habe meinen Abschluss vor zwanzig Jahren gemacht. Die meisten Menschen haben damals gar nicht verstanden, was das für ein Beruf ist. Zwanzig Jahre später stehen die Studierenden vor dem gleichen Problem. Die Leute wissen nicht, was Grafikdesign ist. Bevor wir über falsche Vorstellungen sprechen, sollten wir also über das Konzept von Grafikdesign sprechen und wozu es überhaupt notwendig ist. Wir erleben derzeit eine zunehmende Sensibilisierung dafür. Insofern haben sich die Dinge seit meinem Abschluss verändert, aber es gibt noch viel Raum für Verbesserungen.
Warum konzentrieren Sie sich in Ihrem Buch auf die Vorstellung einzelner Designer und ihrer Arbeit?
Bahia Shehab: Wir wollten zeigen, wie sich das arabische Grafikdesign entwickelt hat, denn das ist für die jungen Designer wichtig. Es ging uns um Bildung. Der zentrale Gedanke war: Wie kann man den jüngeren Leser, die junge Designerin ansprechen? Wir wollten die Gesichter hinter den Namen zeigen, damit die Studierenden nicht nur etwas über Geschichte und Design im Allgemeinen lesen.
Wir wollten die Personen hinter den Werken zeigen und die heutige Generation mit den Pionieren des arabischen Designs bekannt machen. Wir wollten ihnen Grafikdesigner vorstellen, von denen sie sich inspirieren lassen können. Ich bin beispielsweise mit dem Eindruck aufgewachsen, dass es vor mir keine Designer gegeben hat.
Ehrlich gesagt, habe ich das noch lange geglaubt. Bei der Recherche zu diesem Buch war ich erstaunt, wie schön, wie tiefgründig und hochwertig die Arbeit der Designerinnen und Designer tatsächlich ist. Ich wollte unbedingt, dass unsere Studierenden das ebenfalls erfahren, damit sie eine emotionale Verbindung zu diesen Geschichten aufbauen können. Sie sollten die Menschen kennenlernen und nicht nur die Arbeiten.
Nur die Spitze des Eisbergs
Nach welchen Kriterien haben Sie die Designerinnen und Designer in den einzelnen Rubriken ausgewählt?
Bahia Shehab: Manche Werke sprechen für sich selbst. Denken Sie an den 2003 verstorbenen bildenden Künstler Burhan Karkutli aus Syrien. Wenn man seine Plakate oder Entwürfe betrachtet, wird man von seinem einzigartigen Stil stark angezogen. Zunächst mussten wir Designer mit einem starken und eigenständigen visuellen Output finden. Viele von ihnen waren oder sind politisch engagiert – was kaum überraschen dürfte. Dann mussten wir das vorhandene Material sichten.
Leider haben nicht alle Designer ihre Arbeiten dokumentiert. Also mussten wir in etlichen Archiven stöbern und intensiv recherchieren. Ursprünglich war unsere Liste deutlich länger. Über manche Designer fanden wir einfach nichts. Außerdem gingen uns die Mittel aus, weshalb wir bestimmte Länder nicht bereisen konnten, wie beispielweise den Sudan, Tunesien, Algerien und Libyen. Es gibt also noch so viel zu entdecken. Denn wir konnten nur die Spitze des Eisbergs zeigen. Wir werden hoffentlich weitere Ausgaben veröffentlichen, in denen wir die Ergebnisse aktualisieren und in Form eines fortlaufenden Projekts ergänzen.
Wo war es leicht und wo war es schwer, Informationen über Grafikdesign zu erhalten?
Bahia Shehab: Am einfachsten war es Informationen zu bekommen, indem wir Menschen befragt haben. Allerdings waren diese Interviews oft sehr emotional. Manchmal kamen mir die Tränen, vor allem, wenn ich Menschen aus dem Irak oder aus Syrien interviewt habe. Im Libanon war es ähnlich.
Die Geschichten waren eine große emotionale Belastung und es fiel uns nicht leicht, sie für das Buch nachzuerzählen. Als Interviewpartner wird man Zeuge der Diaspora und der Tragödien, die diese Menschen auf der Flucht vor Gewalt durchgemacht haben – auch um ihren Anliegen treu zu bleiben. Die eigentliche Recherche und Suche nach Archiven war ebenfalls eine Herausforderung. Viele Menschen haben ja ihre Archive verloren. Ein Designer aus Syrien schickte mir Bilder von seinem abgebrannten Atelier.
Die Arbeiten der bereits verstorbenen Designer zu finden, war noch viel schwieriger. Obwohl wir ständig hörten, wie einflussreich jene oder jener gewesen war, konnten wir kaum etwas Genaues erfahren.
Was waren die wichtigsten Innovationskräfte für das arabische Grafikdesign? Ist das Bedürfnis, den palästinensischen Widerstand zu thematisieren, regional von großer Bedeutung für die Entwicklung des Designs?
Bahia Shehab: Dem palästinensischen Widerstand und seinem Einfluss auf die Designer in der Region haben wir ein ganzes Kapitel gewidmet. Ich kann aber nicht sagen, dass dieser Widerstand einflussreicher ist als andere Bewegungen. So hat der Arabische Frühling von 2011 eine große Menge an visuellem Material hervorgebracht. Historisch betrachtet, haben bedeutende politische Bewegungen immer wie ein Katalysator auf das Design gewirkt. Wenn sich eine Regierung um die Kultur bemüht, dann treibt das auch das Grafikdesign voran.
Was hat Sie bei der Arbeit an dem Buch am meisten überrascht?
Bahia Shehab: Wir sind auf ein Foto gestoßen, dass Burhan Karkutli auf dem Balkon desselben Hauses im Kairoer Stadtbezirk Zamalek zeigt, in dem heute mein Kollege Haytham Nawar lebt! Das kann man als unglaublichen Zufall oder eine glückliche Fügung bezeichnen.
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Auch die erschütternden Berichte der Designer, die ins Exil gezwungen wurden, waren für uns eine neue Erfahrung. Außerdem hat mich überrascht, dass wir auf so wenige Designerinnen gestoßen sind. Das war recht enttäuschend. In dem Buch können wir daher nur vier Frauen vorstellen - gegenüber 76 Männern. Ich möchte daher gerne mehr Designerinnen entdecken; vielleicht für ein weiteres Buch... "Women of Arab Graphic Design?“
Warum bezeichnen Sie die Jahre nach 1990 als Jahre der "Wiedergeburt“?
Bahia Shehab: Dieses Phänomen der 1990er Jahre hat seinen Ursprung in Beirut und zwar konkret an der dortigen Amerikanischen Universität (AUB), von wo eine regionale Bewegung ausging. Alle, die sich im arabischen Grafikdesign international einen Namen gemacht haben, kommen von der AUB. Nach dem Bürgerkrieg ist im Libanon etwas passiert, das die visuelle Kultur in der Region regelrecht durchgeschüttelt hat. Die Auswirkungen dieser Zusammenarbeit spüren wir dort noch heute.
In Ihrer Einleitung weisen Sie darauf hin, dass in diesem Bereich mehr getan werden muss. Angenommen, Sie hätten zehn Millionen Euro zur Verfügung, welche Projekte würden Sie fördern?
Bahia Shehab: Zunächst würde ich ein Designmuseum errichten. Dann würde ich Wanderausstellungen in verschiedenen Museen weltweit veranstalten, um den Menschen das arabische Grafikdesign, die arabische Geschichte und Kultur näher zu bringen. Wir könnten auch mehr Stipendien brauchen, um verstärkt zu arabischen Designerinnen und Designern und zur Geschichte des arabischen Grafikdesigns zu forschen. Denn wie gesagt: Was wir dokumentiert haben, ist nur die Spitze des Eisbergs. Ich schätze, damit wären meine zehn Millionen Euro wohl aufgebraucht.
Das Interview führte Marcia Lynx Qualey.