Algerien setzt tausende Menschen in der Wüste aus

Kaum hat sich die Covid-19-Krise in Algerien deutlich entspannt, gehen algerische Behörden erneut mit äußerster Härte gegen Migranten vor und schieben unter eklatanter Missachtung internationalen Rechts tausende Menschen nach Niger ab. Von Sofian Philip Naceur

Von Sofian Philip Naceur

Schon seit 2017 geht Algerien systematisch gegen im Land lebende Geflüchtete und Migranten vor und schiebt im Rahmen regelrechter Massenausweisungen wöchentlich hunderte Menschen in das südliche Nachbarland Niger ab. Zwar hatte die algerische Regierung ihr Vorgehen gegen Flüchtlinge und Migranten angesichts der Gesundheitskrise im März vorübergehend eingeschränkt, die Abschiebungen allerdings nie komplett eingestellt.

Ende September haben Algeriens Behörden nun die höchst umstrittenen Massenausweisungen nach Niger wieder aufgenommen – und zwar in großem Stile. Nach Angaben des Aktivistennetzwerkes Alarme Phone Sahara wurden dabei in nur 17 Tagen 5.291 Menschen aus 22 afrikanischen Ländern und Pakistan nach Niger abgeschoben – darunter 409 Frauen und 807 Minderjährige.

3078 davon wurden in vier sogenannten „offiziellen“ Konvois ausgewiesen, die verbleibenden 2.213 Menschen in vier „inoffiziellen“ Konvois rund 15 Kilometer von der Grenze entfernt mitten in der Wüste ausgesetzt und gezwungen, zu Fuß das Land in Richtung Assamaka – einem kleinen Ort auf der nigrischen Seite der Grenze – zu verlassen. Jene Abschiebungen, die Algerien mit Niger koordiniert und Menschen dabei der nigrischen Armee übergibt, werden als „offiziell“ bezeichnet und jene, bei denen Ausweisungen ohne Absprachen mit dem Nachbarland durchgeführt werden, als „inoffiziell“.

Algeriens Abschiebedeal mit Niger

Grundlage für Algeriens Abschiebepolitik ist ein 2014 geschlossenes bilaterales Rückführungsabkommen zwischen den Regierungen in Algier und Niamey, dessen genauer Inhalt aber bis heute unter Verschluss ist. Auch ist unklar, ob es sich um eine schriftliche Abmachung oder nur um eine mündliche Absprache handelt. Als sicher gilt indes, dass der Deal nur Abschiebungen nigrischer Bürger erlaubt.

Infografik: Niger und seine Nachbarstaaten, Quelle: DW
Abschiebungen im großen Stil: Ende September haben Algeriens Behörden die höchst umstrittenen Massenausweisungen nach Niger wieder aufgenommen. Nach Angaben des Aktivistennetzwerkes Alarme Phone Sahara wurden dabei in nur 17 Tagen 5.291 Menschen aus 22 afrikanischen Ländern und Pakistan nach Niger abgeschoben – darunter 409 Frauen und 807 Minderjährige.

Algerien hält sich jedoch nur partiell an die Übereinkunft, denn im Rahmen „inoffizieller“ Konvois werden bis heute systematisch Menschen aus unzähligen meist afrikanischen Ländern nach Niger abgeschoben. In der Vergangenheit waren allerdings auch Menschen aus Syrien, Jemen, Palästina und Bangladesch in das Nachbarland ausgewiesen worden. Die Regierung in Niamey protestierte zwar in den letzten Jahren mehrfach vehement gegen die Ausweisung nicht-nigrischer Staatsbürger. Algerien aber ignorierte derlei Beschwerden aus dem Nachbarland bisher konsequent.

Systematische Verhaftungswellen

Nach Abschluss des Deals schoben algerische Behörden dabei zunächst nur sporadisch nigrische Bürger ins Grenzgebiet ab, weiteten die Ausweisungspraxis aber 2017 massiv aus. Seither lassen algerische Sicherheitsbehörden fast jede Woche Razzien auf Baustellen oder in Stadtviertel mit einem hohen Einwandereranteil durchführen und dabei unter eklatanter Missachtung internationaler Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen mutmaßlich irregulär im Land lebende Einwanderer verhaften. Diese werden nach teils wochenlanger Inhaftierung in Buskonvois in das rund 2000 Kilometer südlich von Algier gelegene Tamanrasset gebracht und hier in einem heruntergekommenen Transitzentrum untergebracht bevor sie auf Militärlastwagen ins Grenzgebiet gefahren und abgeschoben werden.

UN-Behörden und Menschenrechtler kritisierten Algeriens Regierung seit 2017 mehrfach für ihr repressives Vorgehen gegen Einwanderer – so auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), die Algeriens jüngste Ausweisungswelle in einer Stellungnahme Anfang Oktober scharf verurteilte.

„Algerien ist berechtigt seine Grenzen zu schützen, aber nicht Migranten, inklusive Kinder und Asylbewerber, ohne die Spur eines ordnungsgemäßen Verfahrens willkürlich zu inhaftieren und kollektiv auszuweisen“, heißt es in der Erklärung. Nach Angaben von HRW haben seit Ende September in mindestens neun Städten Razzien gegen Einwanderer stattgefunden, bei denen Kinder von ihren Eltern getrennt, Eigentum und Erspartes der Betroffenen konfisziert und den Betroffenen keinerlei Gelegenheit gegeben wurde, die Ausweisungsentscheidungen anzufechten.

Menschenrechtsverletzungen und Gewalt

Immer wieder berichten Betroffene internationalen Medien oder im Niger arbeitenden Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen von teils wochenlanger Inhaftierung vor ihrer Ausweisung, aber auch Schlägen und anderen Formen von Gewaltanwendung seitens algerischer Sicherheitskräfte. Algerische Beamte konfiszieren nach derlei Verhaftungen nicht nur Wertgegenstände wie Bargeld und Smartphones, sondern nehmen Einwanderern teils selbst die Schuhe ab. Jüngst Abgeschobene berichteten HRW zudem davon, dass algerische Beamte ihnen nach der Verhaftung gezielt offizielle Dokumente wie Arbeitserlaubnisse oder Pässe abgenommen und diese mutwillig zerstört hätten.

Unklarheit herrscht derweil weiterhin darüber, wo und in welchem Umfang Algerien Migranten und Geflüchtete inhaftieren lässt. Algeriens Regierung unterhält in Algier, Blida, Oran, Reggane und Tamanrasset speziell für Einwanderer und Ausländer vorgesehene Hafteinrichtungen, berichtet das Global Detention Project, eine in Genf ansässige NGO, die die Inhaftierungspraktiken zahlreicher Länder gegen Einwanderer dokumentiert. Nach Tunesien oder Niger ausgewiesene oder geflüchtete Menschen berichten immer wieder davon, in algerischen Polizeiwachen inhaftiert gewesen zu sein. Doch welche Politik Algerien in dieser Frage konkret verfolgt bleibt unklar, hält sich die Regierung in Algier doch extrem bedeckt. Offizielle Angaben zu inhaftierten Migranten gibt es nicht.

Derweil machen algerische Behörden auch vor Asylbewerbern keinen Halt. Das Algerien-Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR bestätigte auf Nachfrage, dass seit Ende September mehr als 80 Asylbewerber verhaftet und nach Niger ausgewiesen wurden. Seit Januar seien gar mehr als 100 beim UNHCR registrierte Menschen abgeschoben worden.

„Das UNHCR ist zutiefst besorgt über die Verhaftung und kollektive Ausweisung von Asylbewerbern und Migranten“, erklärte der Beauftragte für Außenbeziehungen des UNHCR-Büros in Algier, Russell Fraser, gegenüber Qantara.de. Immerhin seien nach Intervention des UNHCR in den letzten Wochen 14 beim UNHCR registrierte Menschen aus der Haft entlassen worden, so Fraser.

Neue Migrationsstrategie angekündigt

Algeriens Innenminister Kamel Beldjoud hatte zudem Anfang Oktober angekündigt, die Regierung habe eine nationale Strategie im Kampf gegen die irreguläre Migration erlassen, die sich strikt an die von Algerien unterzeichneten internationalen Konventionen halte und die Menschenrechte achte. Die Realität sieht indes anders aus. Alarme Phone Sahara bezeichnete die von Beldjoud verkündeten Maßnahmen in einer Erklärung als „Kriegserklärung“ an Migranten, die unter anderem darauf abzielen, den Rassismus in Algeriens Gesellschaft gegenüber afrikanischen Einwanderern zu befriedigen.

Zeitgleich positioniere sich das Land mit seiner repressiven Abschiebepolitik „indirekt als verlässlicher Wächter des EU-Grenzregimes“, so das Aktivistennetzwerk, das darauf verweist, dass Algerien bisher kein offizielles Migrationsabkommen mit der EU geschlossen habe. Algerische Behörden würden auch deshalb seit Jahren von EU-Staaten mit Militär- und Sicherheitsgütern wie Überwachungstechnologie oder Mercedes-Benz-Fahrzeugen beliefert, so Alarme Phone Sahara.

Sofian Philip Naceur

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