Aufstand gegen Bouteflikas fünftes Mandat
Der Bann ist gebrochen, Algeriens 82-jähriger Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika angezählt. Seit Mitte Februar demonstriert die überwiegend jugendliche Bevölkerung des Landes fast pausenlos gegen die höchst umstrittene Kandidatur des seit 1999 amtierenden Staatschefs und hat inzwischen eine Dynamik in Gang gesetzt, die kaum noch aufzuhalten ist.
Selbst in der Hauptstadt Algier, in der Demonstrationen seit 2001 faktisch verboten sind, ziehen heute fast täglich und weitgehend ungehindert Protestzüge durch die Innenstadt.
Nachdem bereits am 15. Februar in der Berberprovinz Kabylei östlich von Algier und in mehreren Städten Ostalgeriens jeweils einige hundert Menschen gegen Bouteflikas fünftes Mandat demonstriert hatten, folgten rund eine Woche später mehrere hunderttausend Menschen den meist anonymen Protestaufrufen in sozialen Netzwerken und zogen landesweit gegen „Le Pouvoir“ – „die Macht“, wie das Regime im Land auch genannt wird – auf die Straßen.
Seither mobilisieren Studentengruppen, Anwälte, Journalisten und unabhängige Gewerkschaften, aber auch die parteipolitische Opposition und zivilgesellschaftliche Organisationen wie der äußerst aktive Jugendverband Rassemblement Actions Jeunesse (RAJ) gegen die herrschende Ordnung und fordern einen politischen Neuanfang.
Bouteflikas Clan im Machtapparat hat inzwischen auf die Demonstrationswelle reagiert, klammert sich aber weiterhin beharrlich an das formell mächtigste Amt im Staate und weigert sich bisher konsequent, auf die zentralen Forderungen der Protestbewegung einzugehen.
Am Sonntag (3.3.2019) hatte sich der seit einem Schlaganfall 2013 im Rollstuhl sitzende Bouteflika in einem Brief an die Bevölkerung gewandt und erklärt, er habe die Demonstranten „gehört“. Er versicherte darin, im Falle seiner Wiederwahl am 18. April innerhalb eines Jahres vorgezogene Neuwahlen anzusetzen und bei diesen nicht wieder anzutreten.
Nur Stunden später zogen zehntausende Menschen durch Skikda, Sétif, Guelma, Constantine, Oran, Batna, Algier und viele andere Orte im Land und skandierten bis spät in die Nacht Parolen gegen Bouteflika und sein als äußerst korrupt geltendes Regime.
Wie bereits in den Wochen zuvor blieben auch die spontanen Protestmärsche vom Sonntag betont friedlich. Algeriens Jugend zeigt derzeit in beeindruckender Manier, wie man ein autoritäres System mit defensiven und gewaltlosen Taktiken wirksam und effektiv unter Druck setzen kann. Und bereits seit Tagen ist klar: Angesichts dieser Strategien ist Bouteflikas Abdankung nur noch eine Frage der Zeit.
Bei den Großdemonstrationen in Algier am 1. März zog einer der größten Protestzüge von der Grande Poste im Herzen der Hauptstadt die Prachtallee Rue Didouche Mourad hinauf.
Als sich an der Place Audin die Bereitschaftspolizei dem Marsch in den Weg stellte und Tränengasgranaten in die Menge feuerte, skandierte diese „Slimiya, Slimiya“ – „friedlich, friedlich“ – und änderte einfach die Route.
Immer wieder steckten Demonstranten den Sicherheitskräften mitgebrachte Blumensträuße zu und sorgten mit diesem entwaffnenden Habitus für eine durchweg ausgelassene Stimmung. Frauen und Männer, Jugendliche und Rentner und selbst Familien mit ihren Kindern marschierten stundenlang kreuz und quer durch die Innenstadt.
„Wir wollen endlich wieder atmen können“, sagt die 49-jährige Nesrine in der Didouche Mourad gegenüber Qantara.de. „Ich habe zwei Kinder im Alter von 14 und 17 Jahren. Sie kennen nur Bouteflika als Präsidenten. Es wird Zeit, dass sich das ändert“, sagt die Frau aus Bab El Oued, die in einem Bürogebäude als Putzfrau arbeitet. Angst vor den unvorhersehbaren Folgen der Proteste habe sie nicht, versichert sie. „Die Menschen lernen aus der Geschichte. Die Probleme der 1990er Jahre (als Algerien nach den Massenprotesten von 1988 in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen radikalen Islamistengruppen und der Armee schlitterte) werden wir nicht wieder haben. Das wird sich auf keinen Fall wiederholen“, zeigt sie sich überzeugt.Opposition boykottiert Wahlen
Wie es derweil politisch weitergeht, ist absolut unklar. Immer mehr Oppositionsparteien kündigten in den vergangenen Tagen an, die Präsidentschaftswahl boykottieren zu wollen.
Während die beiden in der Kabylei verankerten linksliberalen Parteien Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD) und die Front des Forces Socialistes (FFS) schon vor Wochen klarmachten, dass sie bei einer derartigen Wahlfarce nicht mitzumachen gedenken, kündigte auch die trotzkistische Parti des Travailleurs (PT) von Louisa Hanoune am Wochenende an, den Urnengang boykottieren zu wollen.
Mehrere potentielle Präsidentschaftskandidaten wie Bouteflikas ehemaliger Premierminister Ali Benflis, der Chef des konservativen und gemäßigt islamistischen Mouvement de la Société pour la Paix (MSP), Abderrazak Makri, sowie Abdelaziz Belaïd haben ihre Kandidaturen bereits zurückgezogen.
Damit wird eine Verschiebung des Urnengangs immer wahrscheinlicher. Noch ist nichts entschieden. Doch angesichts der anhaltenden Massenmobilisierung auf den Straßen des Landes kann die Präsidentschaftswahl derzeit kaum als gangbare politische Lösung gelten. Das dürfte selbst den herrschenden Eliten langsam aber sicher klar geworden sein, auch wenn sich Bouteflikas Clan weiter an die bevorstehende Abstimmung klammert.
Für Meriem Saïdani, führendes Mitglied der liberalen Oppositionspartei Jil Jadid (Neue Generation) ist dabei vor allem eines klar: „Es darf kein fünftes Mandat geben.“ Die Straße müsse ihre Präsenz aufrechterhalten, man dürfe sich angesichts der bevorstehenden Entwicklungen die Druckmittel nicht nehmen lassen, erklärt unterdessen der Parteichef von Jil Jadid, Soufiane Djilali, bei einer vom Jugendverband RAJ organisierten Diskussionsveranstaltung in der Innenstadt von Algier am 2. März.
„Seitdem Algerier am 22. Februar im Herzen Algiers ein Porträt Bouteflikas von einem Gebäude abgerissen haben, ist das Regime symbolisch am Ende“, erklärt er gegenüber Qantara.de. Das Regime sei bereits auf dem Rückzug. Ob es sich schnell zurückziehen oder ob dieser Rückzug einige Wochen dauern werde, bleibe jedoch offen, meint er. Nun liege es an der Opposition, „unanfechtbare demokratische Mechanismen“ einzurichten.
Sofian Philip Naceur
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