Verboten, eingeschüchtert, ins Exil getrieben
Die Entscheidung sei nicht überraschend, aber dennoch "äußerst schockierend und beunruhigend.“ Mit diesen Worten kommentierte die Internationale Föderation für Menschenrechte (FIDH), ein Zusammenschluss unzähliger Menschenrechtsorganisationen aus der ganzen Welt mit Sitz in Paris, die amtliche Auflösung der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH).
Angesichts der bereits seit 2020 andauernden sukzessiven Schließung der zuvor mehr als 20 Jahre lang währenden partiellen Freiräume für die regierungskritische Zivilgesellschaft kommt die Nachricht in der Tat nicht unerwartet. Ein schwerer Schlag für Algeriens Menschenrechtsszene ist sie aber allemal.
Erst Mitte Januar war durchgesickert, dass ein Verwaltungsgericht in Algier bereits im Juni 2022 die LADDH per Beschluss aufgelöst und die Entscheidung im September schließlich schriftlich festgehalten hatte. Der Vizepräsident des Béjaia-Büros der LADDH, Said Salhi, zeigte sich entrüstet über das Urteil und die mangelnde Transparenz der Behörden.
Denn die Liga sei über den Gerichtsbeschluss nicht informiert worden, sondern habe erst jetzt aus sozialen Netzwerken darüber erfahren, so der 2022 ins Exil nach Frankreich geflohene Menschenrechtler auf Twitter.
Seit Algeriens Innenministerium im Mai 2022 die gerichtliche Auflösung der LADDH beantragt hatte, habe die Liga keine die Chance gehabt, Akteneinsicht zu erhalten oder zu den bis heute unklar gebliebenen Vorwürfen Stellung zu beziehen. Außerdem sei sie nicht über die formellen Gründe der Beschwerde informiert worden, erklärte die LADDH in einer Stellungnahme. Der Beschluss betone lediglich, die Liga habe gegen geltende Vorschriften verstoßen.
Ernstzunehmen ist die Entscheidung aber allemal, denn kurz nach Bekanntwerden der Schließung der Liga ließen die Behörden die Büros zweier mit der LADDH assoziierter lokaler Organisationen amtlich versiegeln.
Zunächst hatte es das Dokumentationszentrum für Menschenrechte (Centre de documentation et d’information en droit de l’homme, CDDH) in der Küstenstadt Béjaia östlich von Algier getroffen, eine Woche später das Haus der Menschen- und Bürgerrechte (Maison des droits de l’homme et du citoyen, MDHC) in Tizi Ouzou in der Region Kabylei.
Interne Querelen
Die Auflösung der 1985 gegründeten und 1989 amtlich zugelassenen Liga ist ein schwerer Schlag gegen die Zivilgesellschaft im Land, war die Organisation doch eine der aktivsten Menschenrechtsgruppen Algeriens und zudem auch regional und international gut vernetzt.
Zwar hatten interne Querelen schon in den 2000er Jahren zur Spaltung der Liga geführt – seither arbeiteten die Regionalbüros der Organisation de facto getrennt voneinander – , doch die LADDH-Büros blieben trotzdem weiter zentrale Akteure im Kampf gegen staatliche Repressalien gegen Oppositionelle, Dissidenten und Protestbewegungen und für die Rechte Geflüchteter und religiöser oder ethnischer Minderheiten.
Scharf kritisiert wurde die Auflösung der LADDH dabei sowohl von internationalen Organisationen als auch algerischen NGOs, Aktivisten und Oppositionsparteien wie der Sammlung für Kultur und Demokratie (Rassemblement pour la Culture et la Démocratie, RCD). Dessen Präsident Atmane Mazouz erklärte in einer Stellungnahme, die "fast heimliche Auflösung“ der Liga sei eher Ausdruck von Despotismus als nur autoritärer Macht.
Zivilgesellschaft im Visier des Regimes
In einer kuriosen Kurzmeldung vom 31. Januar verwies die amtliche algerische Nachrichtenagentur Algérie Presse Service (APS) derweil auf die "sehr glaubhaften Quellen“ einer algerischen Journalistin, denen zufolge die Menschenrechtsliga aufgrund der Abwesenheit ihres im Ausland lebenden Führungspersonals verboten worden sein soll.
Der Vizepräsident des Béjaia-Büros der LADDH, Said Salhi, konterte auf Twitter mit dem Verweis, dass mit Hocine Zehouane und Noureddine Benissad die Präsidenten der zwei LADDH-Flügel weiterhin in Algerien leben würden.
Die tatsächlichen Gründe für die Schließung der Organisation dürften vielmehr ihre regierungskritische Haltung sowie die Annahme von ausländischen Geldern sein. Vor allem letzteres ist für Algeriens Regierung schon lange ein rotes Tuch und wird grundsätzlich mit Argwohn betrachtet. Bislang hatten die Behörden Finanzhilfen für algerische NGOs aus dem Ausland jedoch meist toleriert und lediglich öffentliche Sticheleien gegen diese lanciert oder als kritisch geltenden Organisationen administrative Hürden in den Weg gelegt.
Die Meldung der APS spricht in diesem Tenor nunmehr auch von der "rätselhaften Undurchsichtigkeit der Finanzverwaltung der Ex-Liga“ – ein deutlicher Hinweis darauf, worum es bei dem Verbot wirklich geht.
Seit dem Sturz von Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika nach dem Massenaufstand gegen das Regime 2019 durch die Protestbewegung Hirak hat sich der Wind im Land gedreht. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 hatte der Hirak seine allwöchentlichen Demonstrationen gegen Regime und Militärführung eingestellt und war praktisch unmittelbar zur Zielschiebe staatlicher Repressalien geworden.
Seither haben die Behörden zunehmend systematisch mit dem Hirak assoziierte zivilgesellschaftliche Organisationen und linksliberale Oppositionsparteien verklagt und verbieten lassen, Dissidenten wurden inhaftiert und mundtot gemacht.
Auf die amtliche Schließung der NGO SOS Bab El-Oued in Algier 2020 folgte ein bis heute laufendes Verbotsverfahren gegen den bei den Hirak-Protesten äußerst aktiven Jugendverband "Zusammenschluss für Jugendaktionen“ (Rassemblement Actions Jeunesse, RAJ). Ebenfalls im Januar bekam derweil die Organisation SOS Disparu in Algier Besuch von der Polizei, die der Leitung der NGO offenbar eine Vorladung zukommen lassen wollte.
Worum es sich hier genau handelt, ist weiterhin unklar, doch die NGO steht bei den Behörden schon seit Jahren auf der Abschussliste, vertritt sie doch die Familien jener Menschen, die während des blutigen Bürgerkrieges der 1990er Jahre meist von Sicherheitskräften entführt worden waren und seither als verschwunden gelten. Das Thema gilt bis heute als Tabu im Land.
Freie Presse in Gefahr
Während für Algeriens politisch aktive Zivilgesellschaft offenbar ernsthaft die Lichter ausgehen, geht es auch der als vielfältig und trotz autoritärer Regierungsführung als ausgesprochen kritisch geltenden algerischen Presse zunehmend an den Kragen. Immer wieder wurden seit 2020 regierungskritische Journalistinnen und Journalisten eingeschüchtert, verhaftet, angeklagt und teils zu Haftstrafen verurteilt.
Zuletzt traf es den Direktor der Internetmedien Radio M und Maghreb Emergent, Ihsane El-Kadi. In der Nacht auf den 25. Dezember 2022 wurde der prominente Journalist in Boumerdès verhaftet und sitzt seither im berüchtigten El-Harrach-Gefängnis in Algier in Untersuchungshaft. Die Büros der beiden Onlinemedien in Algier wurden am Tag nach El-Kadis Inhaftierung durchsucht und versiegelt, technische Ausrüstung und Bargeld konfisziert. Der Zugang zu beiden Websites ist dabei seit Mitte Januar in Algerien blockiert.
Kein Wunder also, dass der durch den Hirak vor allem unter der Jugend vorübergehend versprühte Optimismus seit 2020 praktisch vollständig verflogen ist. Nachdem die seit dem Sturz Bouteflikas wieder fest im Sattel sitzende Militärführung Ende 2019 mit Abdelmajid Tebboune einen neuen willfährigen Staatspräsidenten in Algier installieren konnte, weht im Land eindeutig ein anderer Wind.
Tebboune lässt nun gemeinsam mit dem Sicherheits- und Justizapparat die Freiräume für Opposition, Zivilgesellschaft und freie Presse nach und nach schließen und restautiert erneut ein autoritäres Regierungssystem. Die Aussichten für Versammlungs-, Koalitions- oder Presse- und Meinungsfreiheit in Algerien in den kommenden Jahren sind demnach düster.
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