Kein Schmelztiegel der Kulturen

Türken besuchen in der Regel die neu von Migranten eröffneten Restaurants nicht. Dazu sind die Vorbehalte zu groß.
Türken besuchen in der Regel die neu von Migranten eröffneten Restaurants nicht. Dazu sind die Vorbehalte zu groß.

Istanbul sieht sich als Schmelztiegel der Kulturen. Das bezeugt nicht zuletzt die große Vielfalt der internationalen Gastronomie in der Stadt. Doch der Besuch eines der neu von Migranten eröffneten Restaurants kommt für viele Türken nicht infrage. Von Ayşe Karabat

Von Ayşe Karabat

"Tahki Arabi?" Das fragte mich ein junger und mutmaßlich minderjähriger Kellner schüchtern an der Tür eines voll besetzten Restaurants in einer der belebten Straßen von Istanbul. Auf meine auf Türkisch gestellte Frage nach den angebotenen Speisen wollte der junge Mann wissen, ob ich Arabisch spreche. Wir versuchten uns daraufhin, mit Gesten zu verständigen. Er bat mich zu warten, ging hinein und kam mit einem älteren Kollegen zurück, der meine Frage beantworten konnte. Es war ein syrisches Restaurant. 

Der Kollege sprach gebrochen Türkisch und wirkte recht reserviert. Als ich ihm erzählte, dass ich als Journalistin an einer Geschichte über Restaurants von Migranten in Istanbul arbeite, ging er spürbar auf Distanz. Er erzählte mir nur, das Restaurant sei bereits vor einigen Jahren eröffnet worden und werde meist von syrischen Landsleuten besucht. Wer der Inhaber des Restaurants ist, das auf Facebook als "American Dinner Restaurant“ geführt wird, wollte er nicht sagen. 

Die Skepsis verwundert nicht, wenn man weiß, dass vielen Migranten in der Türkei oft fälschlicherweise unterstellt wird, sie betrieben ihre Geschäfte illegal. Bislang ist es weder einschlägigen Nichtregierungsorganisationen noch Migrationswissenschaftlern gelungen, die türkische Öffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen. Die Lage – so deren Einschätzung – sei eine ganz andere: Der Papierkrieg, den Migranten für die Eröffnung eines kleinen Unternehmens zu bewältigen haben, sei so umständlich, dass sich viele lieber einen türkischen Partner suchten. 

Nach Angaben des türkischen Handelsministeriums gab es im Jahr 2019 landesweit 416 Restaurants und 119 Pâtisserien in syrischer Hand. Einige von ihnen befinden sich in der Nähe eines der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Istanbuls, dem Yenikapı-Platz. Andere liegen im historischen Stadtbezirk Fatih, benannt nach dem Sultan, der die Stadt 1453 von den Byzantinern eroberte. 

Die Eroberung der Gastronomie 

Ein Streifzug durch die Nachbarschaft scheint zu belegen, dass die Gastronomie immer mehr von nicht-türkischen Restaurants dominiert wird. Diverse Kebab-Läden aus Syrien, Libanon, Jemen, Irak und Palästina wechseln sich ab mit Pâtisserien. Schaufensterauslagen, Schilder und auch Speisekarten informieren auf Arabisch – trotz einschlägiger gesetzlicher Auflagen.

Schaufenster eines arabischen Restaurants in Istanbul with arabischen Schildern (Foto: Volkan Kisa)
Das türkische Institut für Normung schreibt vor, dass in Geschäften und Restaurants die fremdsprachliche Beschriftung um ein Viertel kleiner sein muss als die landessprachliche. Doch die Behörden vor Ort setzen diese Vorschrift unterschiedlich um. Einige tolerieren eine ausschließlich fremdsprachliche Beschriftung, andere nicht. Istanbul legt die Vorschrift auf ganz eigene Weise aus: Alle Schilder und Beschriftungen auf Arabisch, die nicht den Vorschriften entsprechen, müssen verschwinden. Ausgenommen davon bleiben Schilder und Speisekarten in russischer und englischer Sprache, obwohl diese ebenfalls vorschriftswidrig sind. 



Das türkische Institut für Normung schreibt vor, dass in Geschäften und Restaurants die fremdsprachliche Beschriftung um ein Viertel kleiner sein muss als die landessprachliche. Nach Angaben der Refugees and Asylum Seekers Assistance and Solidarity Association (Vereinigung zur Unterstützung und für Solidarität mit Geflüchteten und Asylbewerbern) wird diese Vorschrift von den Behörden vor Ort unterschiedlich umgesetzt: Einige tolerieren eine ausschließlich fremdsprachliche Beschriftung, andere nicht. 

Das Gouverneursamt von Istanbul legt die Vorschrift auf ganz eigene Weise aus: Es lässt alle Schilder und Beschriftungen auf Arabisch entfernen, die nicht den Vorschriften entsprechen. Ausgenommen davon bleiben Schilder und Speisekarten in russischer und englischer Sprache, obwohl diese ebenfalls vorschriftswidrig sind. 

Nach amtlichen Angaben leben 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei, etwa 600.000 davon in Istanbul. Allerdings sind in Istanbul auch viele Menschen aus anderen Ländern zu Hause. Die größte Gruppe nach den Syrern sind die Iraker, gefolgt von Afghanen, Iranern und Ukrainern. Letztere kamen vor allem nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine in die Stadt. 

Laut Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul, sind 15 Prozent der Gesamtbevölkerung der Metropole Migranten. Die amtlich angegebene Zahl der Migranten liegt bei 1,6 Millionen. İmamoğlu geht allerdings von etwa zwei Millionen Menschen aus, von denen die meisten in bestimmten Bezirken leben.

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So beispielsweise im historischen Stadtteil Fatih mit etwa 400.000 Einwohnern. Im Bemühen, die Ausländerdichte dort um 50.000 Personen zu senken, untersagt die Stadtverwaltung seit Januar 2021 die Vermietung an Zugewanderte, selbst wenn diese eine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen können. Nach Auskunft der Behörden von Fatih hält dies die Zielgruppe jedoch nicht davon ab, den Bezirk zu besuchen. Täglich sind hier rund drei Millionen Menschen unterwegs. 

Syrer leben vorwiegend in den Vororten auf der europäischen Seite von Istanbul. In ghettoähnlichen Vierteln bewohnen sie teilweise ganze Häuserzeilen. Wegen seiner zahlreichen syrischen Geschäfte wird der "Malta-Basar“ in Fatih inzwischen als "Klein-Damaskus“ bezeichnet. 

Türken zählen nicht zu den Stammgästen 

So verwundert es nicht, dass die Gastronomie in Fatih international geprägt ist. Sally Soeni, die Inhaberin eines indonesischen Restaurants, lebt seit zwölf Jahren in der Türkei. Sie spricht fließend Türkisch und berichtet, dass sie ihr kleines Lokal im April dieses Jahres eröffnet habe. 

"Zu uns kommen vorwiegend Indonesier, die in Istanbul leben oder hier zu Besuch sind, beispielsweise indonesische Studenten, aber auch Touristen aus anderen Ländern. Türken zählen nicht zu unseren Stammgästen, obwohl die indonesische Küche viele geschmackliche Gemeinsamkeiten mit der türkischen hat“, sagt sie gegenüber Qantara.de. 

Zu den wenigen Einheimischen, die regelmäßig Restaurants von Migranten besuchen, gehört Semin Güner Gümüşel. Sie hat bislang durchweg positive Erfahrungen gemacht und besucht diese Restaurants gerne mit ihren Freundinnen.



"Wir werden immer freundlich empfangen. Zwar haben nur wenige Restaurants türkische Speisekarten, doch das ist in Ordnung. Es gibt ja Fotos von den Speisen und man kann sich die Gerichte sogar ansehen“, sagt sie. Allerdings, so fügt sie hinzu, würden viele aus ihrem Bekanntenkreis niemals in eines der jüngst von Migranten eröffneten Restaurants gehen. 

In einem von Migranten betriebenen Kebab-Imbiss in der Türkei (Foto: Volkan Kisa)
Nach Angaben des türkischen Handelsministeriums gab es im Jahr 2019 landesweit 416 Restaurants und 119 Pâtisserien in syrischer Hand. Einige von ihnen befinden sich in der Nähe eines der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Istanbuls, dem Yenikapi-Platz. Andere liegen im historischen Stadtbezirk Fatih, benannt nach dem Sultan, der die Stadt 1453 von den Byzantinern eroberte. 



"Nicht, weil ihnen das Essen dort nicht schmeckt. Die meisten sind grundsätzlich offen für neue Gerichte – zumal wenn sie auf Reisen sind. Andere besuchen gerne angesagte Restaurants mit europäischer oder fernöstlicher Küche. Aber ein Restaurant, das Migranten aus dem Nahen Osten oder Nordafrika betreiben, kommt für sie nicht infrage. Das hat auch mit den gängigen Vorbehalten der Türken gegenüber Migranten aus diesem Teil der Welt zu tun“, erklärt Gümüşel gegenüber Qantara.de. 

Eine jüngst durchgeführte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll stützt diese These: 81,7 Prozent der Türken befürworten die Rückkehr der Syrer in ihr Land. Dem steht eine Umfrage des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) aus dem Jahr 2020 entgegen, nach der 78 Prozent der syrischen Flüchtlinge die Türkei nicht verlassen wollen.

Doch wie Semin Güner Gümüşel betont, lassen sich die meisten Türken auch mit raffinierten Gerichten nicht in ein von Migranten geführtes Restaurant locken. Zu beobachten ist das beispielsweise in der İstiklal Caddesi, Istanbuls beliebter Einkaufsstraße und Gastronomie-Meile. Diese stets auch von Touristen frequentierte Straße ist gleichzeitig ein kulturelles und geschäftliches Zentrum und beherbergt einige Sterne-Restaurants. Die von Migranten geführten Restaurants auf der İstiklal Caddesi bewirten Menschen aus aller Welt, doch auffällig wenige Türken. 

"Wir spielen persische Live-Musik und servieren iranische Gerichte. Abends sind wir meist ausgebucht. Unsere Gäste kommen aus aller Welt. Wir bewirten auch viele Iraner, die entweder zu Besuch sind oder hier leben. Türken bewirten wir eher selten“, sagt Hakan, ein Kellner in einem iranischen Restaurant, der betont, dass einige Zutaten für die Gerichte direkt aus dem Iran kommen. 



Einige der von Migranten geführten Restaurants geben ihr Bestes, um die Vorbehalte der Istanbuler zu entkräften. Sie veröffentlichen Bilder von Speisen und posten Einladungen und initiieren Kampagnen in den sozialen Medien. Alles in der Hoffnung, als Teil der Istanbuler Kultur anerkannt zu werden. So wie es früheren Migranten aus anderen Teilen der Welt auch gelungen ist, die ihre Restaurants vor Jahrzehnten aufgemacht haben. 

 

 

Ein bekanntes Beispiel dafür ist ein russisches Restaurant, dass 1917 von Auswanderern eröffnet wurde, die vor den Unruhen der Russischen Revolution geflohen waren. Das Restaurant mit seiner Ausstattung aus den 1920er Jahren ist mittlerweile eine Istanbuler Institution und zählt zu den besten der Stadt. Wer hier einkehren möchte, sollte Wochen im voraus reservieren. 

Istanbuls gastronomische Neuzugänge werden zwar nicht oft von Türken besucht, aber sie sind auch selten Ziel von Schikanen. Das kist in Ankara anders. Dort geriet ein somalisches Restaurant inmitten des Kizilay-Viertels diesen Sommer ins Visier, nachdem eine Zeitung behauptet hatte, "das Zentrum von Ankara ist zum Somalia geworden“. 

Seitdem stattete die Polizei dem Restaurant mehrere unangekündigte Besuche ab, überprüfte die Papiere und Identitäten von Gästen und belegte das Restaurant wegen seiner Beschilderung mit einem Bußgeld. Gegen den Mitinhaber des Restaurants, Muhammed Isse Abdullahi, erging schließlich ein Ausweisungsbefehl. Er verbrachte 36 Tage in einem Rückführungszentrum, bevor er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. 

Emre Erdoğan, Professor für internationale Beziehungen an der Istanbuler Bilgi-Universität, meint, die Türken wüssten nicht viel über diese Restaurants, da sie sie nicht besuchten. 

"Wir können uns kaum vorstellen, wie schwierig es für Syrer ist, hier in der Türkei ein Geschäft zu gründen und erfolgreich zu betreiben. Wir wissen auch nichts über die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten“, sagte er. "Überdies bleibt uns verborgen, was Menschen denken, die die syrische Küche kennenlernen, wie sich ihre Einstellung verändert und was sich vielleicht verbessert“, so Erdoğan. 

"Dieses Unwissen gepaart mit der aktuellen Brisanz des Themas ist wohl das größte Hindernis für einen offenen Austausch und eine unvoreingenommene Begegnung.“ 

Ayse Karabat

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