Nur noch raus aus der Türkei
An den deutschen Grenzen werden immer häufiger Flüchtlinge und Schmuggler mit türkischer Staatsangehörigkeit aufgegriffen. Das belegen Daten der Bundespolizei, wie eine Antwort der Behörde an die Deutsche Welle zeigt.
Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres haben Beamte der Bundespolizei 5362 unerlaubt eingereiste türkische Staatsangehörige an den deutschen Grenzen festgenommen. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 2531. Und im Jahr 2020, als Reisen aufgrund der Pandemie eingeschränkt wurden, waren es 1629 Personen.
Laut Bundespolizeidirektion München hat die Zahl nach Deutschland eingereister türkischer Flüchtlinge von Januar bis September 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 254 Prozent zugenommen. Im Vergleich zum Januar bis September 2020 waren es nach Angaben der Behörde sogar 368 Prozent mehr Geflüchtete.
Auch die Zahl der Schmuggler mit türkischem Pass sei angestiegen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden laut Bundespolizei insgesamt 185 Schleuser mit türkischer Staatsangehörigkeit entdeckt. Im gesamten Jahr 2021 waren es 111, im Jahr 2020 nur 56.
Nach eigenen Angaben kommen die Flüchtlinge über die Balkanroute nach Deutschland. Die Kosten für die Flucht lägen pro Person zwischen 6000 und 8000 Euro. Warum machen sich immer mehr Menschen aus der Türkei auf diese gefährliche Reise?
Das Geschäft mit der Hoffnung
In der Türkei verschlechtert sich sowohl die politische als auch die wirtschaftliche Lage seit einem Jahr rapide. Jüngst verabschiedete die Regierungsmehrheit im Parlament ein Gesetz, das für die Verbreitung "falscher" oder "irreführender" Informationen Haftstrafen von bis zu drei Jahren vorsieht. Ob eine Nachricht falsch oder irreführend ist, entscheiden regierungsnahe Staatsanwälte. Für Kritiker ist das sogenannte Desinformationsgesetz ein weiterer Versuch, die Meinungs- und Pressefreiheit auszuhebeln - insbesondere im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühsommer 2023.
Berufsverbände, die nicht auf Regierungslinie sind, geraten vermehrt ins Visier der türkischen Justiz. Ende Oktober wurde die Präsidentin des türkischen Ärzteverbandes (TTB) und Trägerin des Hessischen Friedenspreises, Sebnem Korur Fincanci, verhaftet. Ihr wurde die "Verbreitung von Terrorpropaganda“ vorgeworfen. Der TTB deckt Menschenrechtsverletzungen auf und kritisiert die Regierung mit deutlichen Worten.
Zudem macht auch die galoppierende Inflation im Land der Bevölkerung das Leben immer schwerer. Nach offiziellen Angaben lag die Teuerungsrate im Oktober bei 85,5 Prozent. Laut ENAG, einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlern, die Zahlen zur Inflation ermitteln, waren es sogar über 185 Prozent. Die Kaufkraft schwindet, viele Menschen können trotz Arbeit nicht einmal mehr ihre Grundbedürfnisse befriedigen.
Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie sehen über 70 Prozent der Menschen zwischen 17 und 30 Jahren für sich keine Zukunft im Land. Fast 82 Prozent würden am liebsten die Türkei verlassen und im Ausland leben, wenn sie könnten. Der Ärzteverband TTB gibt an, dass bis September rund 2000 Ärzte eine Arbeitsbescheinigung fürs Ausland beantragt haben.
Auch Dündar Kelloglu, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats Niedersachsen, sieht eine zunehmende Fluchtbewegung aus der Türkei. "Insbesondere junge Flüchtlinge berichten uns, dass sie in ihrer Heimat keine Zukunftsperspektive sehen und keine Hoffnung haben", sagt der Jurist im Interview mit der Deutschen Welle.
Einfach hinter der Grenze abgeladen
Mitte September griff die Bundespolizei im bayerischen Rosenheim sechs junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren auf, die für die Fahrt in einem LKW aus der Türkei bis nach Österreich etwa 8000 Euro pro Person gezahlt hatten. Den Polizisten sagten sie, dass sie Asyl beantragen und in Deutschland Geld verdienen wollten. Allerdings stellt die schlechte wirtschaftliche Lage im Herkunftsland keinen Asylgrund dar - doch das wussten die Männer nicht.
Früher hatten Schleuser die Flüchtlinge oft auf eine Begegnung mit der Polizei vorbereitet oder sie bis zu einem Ort begleitet, an dem Verwandte sie abholen konnten. Das ist heute aber offenbar kaum noch der Fall.
Ein anderer Fall aus Kreuth macht noch deutlicher, wie unvorbereitet Schleuser die Flüchtenden einfach an deren Ziel aussetzen. Kreuth ist ein kleiner Ort an der deutsch-österreichischen Grenze, in dem Ortsfremde schnell auffallen. Und diese Gruppe bestand aus gleich elf Personen, fünf Erwachsenen und sechs Kindern im Alter zwischen einem und 13 Jahren. Sie suchten Zuflucht in einem zu später Stunde noch geöffneten Schnellrestaurant. Ein Angestellter alarmierte die Polizei. Es waren Kurden aus der Türkei, die direkt hinter der Grenze einfach abgesetzt worden waren, stellten die Beamten später fest.
Türken auf Platz Drei bei den Asylanträgen
Die Fluchtbewegung aus der Türkei schlägt sich auch in den Statistiken nieder. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben fast 16.000 türkische Schutzsuchende von Januar bis Oktober 2022 einen Asylantrag gestellt, die meisten als Erstantrag. Das ist ein Zuwachs von 175,7 Prozent. Die Türkei ist nach Syrien und Afghanistan inzwischen das drittstärkste Herkunftsland.
Für Clara Bünger, Bundestagsabgeordnete der Linken, die regelmäßige Anfragen zu Asylzahlen stellt, ist das keine Überraschung. Ihrer Meinung nach deute die Fluchtbewegung aus der Türkei darauf hin, dass sich die politische Situation für Gegner und Gegnerinnen der Regierung zuspitze. Die Repressionen nähmen zu, insbesondere für Kurden werde die Lage immer gefährlicher.
Experten wie Rechtsanwalt Dündar Kelloglu gehen davon aus, dass die Zahl der Flüchtlinge aus der Türkei weiter steigen wird, denn vor den Wahlen rechnet niemand mit einer Entspannung der politischen Lage. Eine Verbesserung der angeschlagenen Wirtschaft ist genausowenig in Sicht.
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