Europas Flüchtlingsproblem, damals und heute
In diesem Frühjahr fuhr ich an einen schönen Ort am Südufer des Genfer Sees. Mein Ziel war das Hotel Royale in Évian-les-Bains. Dort versammelten sich im Juli 1938 Vertreter aus 32 Nationen zu einer beschämenden Diskussion, die nahezu aus unserem Gedächtnis verbannt wurde.
Als Reaktion auf die sich durch Hitlers virulenten Antisemitismus abzeichnende massive Flüchtlingskrise lud US-Präsident Franklin D. Roosevelt damals zur Konferenz von Évian, die zur Katastrophe geriet. Die verheerenden Ergebnisse dieses Treffens muss man sich vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationskrise in Europa in Erinnerung rufen.
Auf der Konferenz von Évian wollte man sich der Misere hunderttausender deutscher und österreichischer Juden annehmen, die verzweifelt anderswo nach Zuflucht suchten. Roosevelt glaubte, dass man dieser Herausforderung nur mit einer kollektiven Lösung begegnen konnte. Auch Hitler hoffte, andere Länder würden die Flüchtlinge aufnehmen.
Im Rahmen einer Rede in Königsberg im März des Jahres 1938 spottete er: "Ich kann nur hoffen und erwarten, dass die andere Welt, die mit diesen Verbrechern so tiefes Mitleid empfindet, wenigstens großzügig genug ist, dieses Mitleid in praktische Hilfe zu verwandeln. Wir sind von uns aus bereit, alle diese Verbrecher meinetwegen auf Luxusschiffen diesen Ländern zur Verfügung zu stellen." Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits begonnen, Juden zu vertreiben, auch indem er sie zwangsweise auf Schiffen an verschiedene Ziele rund um das Mittelmeer und den Atlantik transportierte.
Flüchtlinge unerwünscht
Doch die Flüchtlinge sahen sich in ganz Europa mit Ablehnung konfrontiert. Am 6. Juni 1938, als die Vorbereitungen für die Konferenz im Gange waren, erhielt das US-Außenministerium einen Brief über das Schicksal von 51 jüdischen Flüchtlingen aus Österreich, die in einem kleinen Boot in den internationalen Gewässern der Donau gestrandet waren. Der Verfasser des Briefs erinnerte sich an seine Beobachtungen: "das herzzerreißende Schicksal von 51 Menschen, die von einer Grenze an die andere getrieben wurden. Wir erlangten persönlich Kenntnis von dem unsäglichen Leid, das 100.000 Einwohnern Österreichs widerfahren ist."
Obwohl zahlreiche europäische Delegationen ihrer Bestürzung über die Qualen der Juden in Deutschland und Österreich eloquent Ausdruck verliehen, war man im darauf folgenden Monat in Évian nicht vorbereitet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Das Ergebnis dieser Konferenz war klar: Europa, Nordamerika und Australien würden keine nennenswerte Zahl dieser Flüchtlinge aufnehmen.
In den Wortprotokollen wurden zwei Ausdrücke wiederholt verwendet: "Dichte" und "Sättigung". Die Länder Europas sahen sich bereits mit entsprechender Bevölkerungs-"Dichte" konfrontiert und hatten einen "Sättigungsgrad" erreicht - anders ausgedrückt: in der Herberge Europa war einfach kein Zimmer mehr frei.
Wenn man sich die heutigen Bevölkerungszahlen in Europa vor Augen führt, waren diese Äußerungen des Jahres 1938 natürlich absurd. Und sie wären heute gleichermaßen lächerlich.
Mangel an moralischem Gewissen
Selbstverständlich konnten die Konferenzteilnehmer in Évian den Holocaust ebenso wenig vorhersehen wie die Tatsache, dass Europa in einen weiteren verheerenden Krieg hineingezogen werden würde. Dennoch war ihr Mangel an moralischem Gewissen atemberaubend. Viele der Länder, die sich weigerten, leidende Flüchtlinge aufzunehmen wurden ihrerseits alsbald von den Nazis besetzt und geschunden – und suchten verzweifelt jenes Mitgefühl, das sie den Juden im Juli 1938 verweigert hatten.
Im Wissen, dass ihr bösartiger Antisemitismus im Rest Europas – manchmal gar nicht so wenig – Anklang fand, müssen die Nazis wohl jubiliert haben. Außerdem wurde ihnen klar: wenn Vertreibung nicht möglich war, würde es Ausrottung letztendlich sein.
Alarmierende Signale
Heute sind Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ressentiments gegenüber Zuwanderern in ganz Europa wieder auf dem Vormarsch. Für uns gilt es nun innezuhalten und zu überdenken, wo genau wir uns befinden. Eine bekannte britische Boulevardzeitung hielt es vor kurzem für akzeptabel, einem ihrer Kolumnisten zu erlauben, Immigranten als "Kakerlaken" zu bezeichnen.
Der ruandische Radio- und Fernsehsender Radio Télévision Libre des Mille Collines bediente sich vor dem Völkermord des Jahres 1994 des gleichen Ausdrucks als Bezeichnung für die Bevölkerungsgruppe der Tutsi und auch Julius Streichers Nazi-Blatt Der Stürmer verwendete diesen Begriff zur Beschreibung der Juden. Politische Entscheidungsträger in ganz Europa schieben den Migranten regelmäßig – und schändlicherweise – die Schuld an den Problemen in ihren Herkunftsländern in die Schuhe.
Attacken auf Migranten oder Minderheiten – ob derb durch Sprache oder subtil durch Politik – sind überall inakzeptabel, Punkt. Wenn Worte mit der klaren Absicht formuliert werden, Schaden anzurichten und Gewalt auf Grundlage nationaler, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit zu verursachen, wird aus Meinungsfreiheit Anstiftung zu Hass und das ist per Gesetz verboten. Länder, die den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert haben – und dazu gehören alle Mitglieder der Europäischen Union – sind angehalten, diese Übereinkunft auch zu beachten.
Doch Europas aktuelle Vorschläge hinsichtlich Migration lassen viel zu wünschen übrig. Der Kontinent muss sich in sensiblerer Weise an seine Vergangenheit erinnern und den verzweifelten Menschen, die das Mittelmeer überqueren, großzügiger entgegentreten. François Crépeau, UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, bemerkte vor kurzem in einem Interview, dass Europa, Australien und Kanada in den nächsten fünf Jahren leicht eine Million syrischer Flüchtlinge aufnehmen könnten.
Überdies wäre es möglich, diese Liste um Eritreer zu erweitern und dieses Programm auf sieben Jahre zu verlängern. Warum schlägt man in Europa also vor, die erbärmlich niedrige Zahl von 20.000 bis 40.000 Menschen jährlich aufzunehmen?
Europäischen Politikern, die sich strikt gegen Migration wenden, schlage ich vor, sich umzusehen, wenn sie sich das nächste Mal in ein Krankenhaus in Behandlung begeben: viele der Menschen, die sich dort um sie kümmern, haben Migrationshintergrund. Und sollten diese Politiker ihren Durst mit dem berühmten Wasser aus Évian-les-Bains löschen, mögen sie an diese an Feigheit gescheiterte Konferenz denken, die so viele Leben hätte retten können – und daran, welche Lehren wir heute noch daraus ziehen können.
Zeid Ra'ad Al Hussein
© Project Syndicate 2015
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier