Keine Rekrutierungsbasis für Dschihadisten
Ende Mai feierte Indiens Regierungspartei das dreijährige Amtsjubiläum – für die Minister Gelegenheit für Zwischenbilanzen. Innenminister Rajnath Singh verkündete eine gute Nachricht: "Mit voller Zuversicht kann ich sagen, dass es der Terrormiliz 'Islamischer Staat' bislang nicht gelungen ist, in Indien an Zugkraft zu gewinnen."
In den internationalen Statistiken der vom IS inspirierten Terroranschläge sucht man das südasiatische Land vergebens. Dabei böte Indien wegen seiner Demographie und der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen einen Nährboden für fremdgesteuerten islamistischen Terrorismus: Von rund 1, 3 Milliarden Indern bekennen sich 180 Millionen zum Islam, allein in Indonesien leben mehr Muslime als hier.
Indien bleibt bislang vom Terror des "Islamischen Staates" verschont. Und die Terrormiliz bekommt aus dem südasiatischen Land auch kaum Zulauf. Zwar tauchen immer wieder Werbevideos mit Untertiteln in den Landesprachen Hindi, Urdu und Tamil im Internet auf, in einer Rede erklärte IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi den indischen Subkontinent zum Einzugsgebiet des angestrebten Welt-Kalifats. Doch allem Anschein nach sind nur vergeichsweise sehr wenige indische Staatsbürger den IS-Rufen gefolgt.
In einer Rede vor dem Parlament bezifferte Außenministerin Sushma Swaraj die Zahl derjenigen, die "auf die andere Seite" gewechselt sind mit 50. Im Vergleich zu Zahlen aus anderen Ländern, wo Hunderte, teilweise Tausende den Anschluss an die arabische Terrormiliz gefunden haben, ist dies eine überschaubare Größe.
Detaillierter als die Außenministerin geht eine aktuelle Studie der Brookings Institution auf das Thema ein. Die Wissenschaftler beziffern die Zahl der Inder, die vom IS angeworben wurden, mit 142. Von diesen seien 132 den Behörden namentlich bekannt, erfahren wir. Seit 2013 sei die Zahl der Rektruten stetig gewachsen, inzwischen sei dieser Trend aber zum Stillstand gekommen. "Dies weist darauf hin, dass der 'Islamische Staat' in Indien kaum Fortschritte gemacht hat", resümieren die Experten.
Indiens marginalisierte Muslime
Diese Aussage deckt sich mit dem offiziellen Narrativ der Regierung, die schnell eine Erklärung zur Hand hat: "Dies liegt in hohem Maße an dem indischen Ethos", erklärte Außenministerin Swaraj. "Die Verfassung ist säkular und selbst die religiösen Führer predigen Mitgefühl und Toleranz. Wir sind gegen Gewalt."
Dem offiziellen Bild der interreligiösen Harmonie würden vermutlich viele Inder, vor allem Inder muslimischen Glaubens, widersprechen. Das Verhältnis zwischen Hindu-Mehrheit und Muslim-Minderheit ist historisch belastet. Politisch und gesellschaftlich ist die kopfstarke Muslim-Gemeinde Indiens marginalisiert; auf örtlicher Ebene kommt es immer wieder zu Übergriffen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Anti-muslimische Rhetorik aus dem Umfeld der hindu-nationlistischen Regierungspartei BJP trägt nicht dazu bei, bestehende Gräben zu überwinden; es gibt Stimmen, die das Gegenteil behaupten.
"Die schamlosesten Muslime der Welt"
Die Spannungen bescheren den Dschihadisten indes keinen Zulauf. Die Friedfertigkeit der überwältigenden Mehrheit der indischen Muslime ist ein Dorn im Auge der winzigen Gruppe gewaltbereiter Islamisten: "Sie sind die schamlosesten Muslime der Welt", verkündet Zakir Musa, den indische Medien als Al-Qaida-Agenten bezeichnen, in einer Audiobotschaft. "Sie sollten sich schämen, sich Muslime zu nennen. Unsere Schwestern werden missbraucht und entehrt und die indischen Muslime rufen: Islam ist Frieden."
Die Reaktion des muslimischen Establishments auf die Schmähungen liess nicht lange auf sich warten: "Indiens Muslime wissen, wie sie ihre Schlachten friedlich schlagen müssen und wie sie ihre Probleme im Rahmen der Verfassung finden", erklärte Naveed Hamid vom führenden Dachverband der Muslimgemeinden Indiens AIMMM.
Der Bezug auf die Verfassung ist eine wichtige Erklärung für den Erfolg der indischen Staates bei der Eindämung religiös inspirierter Militanz. Der Säkularismus ist Verfassungsprinzip und Garant für weitreichende Autonomie der Muslime in Glaubensfragen. Beim Personenstandsrecht gilt für Indiens Muslime die Scharia. Mit Argus-Augen wacht eine konservative Geistlichkeit darüber, dass althergebrachte islamische Traditionen erhalten bleiben, wenn es etwa um Ehe-, Erbschafts- oder das Scheidungsrecht geht.
Die Verfassung gibt der Minderheit auch das Recht, eigene Schulen zu betreiben: Die Mehrheit der Madrasas stehen unter der Verwaltung des konservativen religiösen Establishments. Dieses wacht darüber, dass die Koran-Schulen nicht zum Einfallstor für den aus dem Nahen Osten importierten gewaltorientierten Islamismus werden.
Das Internet als wichtigstes Rekrutierungsinstrument
Entsprechend hat das Terrornetzwerk seine Rekrutierungsstrategie ganz auf den digitalen Raum verlegt. Im Internet sehen Indiens Sicherheitsbehörden die wichtigste Quellle der islamistischen Bedrohung. Facebook, WhatsApp und Twitter sind ein Tummelplatz für IS-Propagandisten und gelten als Kontakthof für die Rekrutierer. Wie die Online-Anwerbung funktioniert, berichten indische Zeitungen immer wieder im Detail. Oft sind die Verbindungsleute Diaspora-Inder, die im arabischen Raum leben, dort in die Fänge des IS geraten sind und nun ihre Landsleute daheim anlocken wollen.
Mit einer Reihe von Gegenmaßnahmen hat der indische Staat reagiert. Anfang Mai verkündte die Anti-Terror-Gruppe in der Wirtschaftsmetropole Mumbai, sie habe in den zurückliegenden beiden Jahren 60 Jugendliche daran gehindert, dem "Islamischen Staat" beizutreten. "Die meisten Jugendlichen wurden online radikalisiert", erklärt ein Sicherheitsbeamter. "Die Agenten des IS suchen im Internet Kontakt zu jungen Menschen und versuchen sie auf ihr Gebiet zu locken oder zu (terroristischen) Einzeltaten zu verleiten."
Radikalisierte Muslime an der Ausreise in die arabische Welt zu hindern, ist ein Kernelement der indischen Anti-Terrorstrategie. Zu dieser Strategie gehört auch, die Überführten bzw. Festgenommenen mit Samthandschuhen und nicht wie Schwerverbrecher zu behandeln.
"Unser Ziel ist es, sie in die Gesellschaft zurückzuführen und nicht zu Opfern zu machen", zitiert die indische Presse einen Anti-Terror-Offizier. Beratung statt Bestrafung gilt als Maxime beim Umgang der Behörden mit den meist jugendlichen potenziellen IS-Rekruten.
Regierungsstrategien zur Deradikalisierung
Dabei greifen die Inder auf die Erfahrungen anderer Regierungen mit sogenannten Deradikalisierungsprogrammen für islamistische Gefährder zurück. Wenn Indiens Ministerpräsident Narendra Modi mit Amtskollegen zusammentrifft, steht die Terror-Abwehr immer auf der Tagesordnung. Das war kürzlich bei seinem Besuch in Berlin so und wird ganz bestimmt auch der Fall sein, wenn der indische Regierungschef Anfang Juli zu einem offiziellen Besuch nach Israel reist. Die Koordinierung und der Erfahrungsaustausch bei der Terror-Abwehr sind längst eine Priorität der indischen Außenpolitik.
Derweil versteht der 17-jährige Abdur Raheman aus Uttar Pradesh die Welt nicht. Zusammen mit vier anderen Muslimen hatte ein Spezialkommando den Jugendlichen festgesetzt, dann aber nach kurzer Zeit wieder laufen lassen. Die Tageszeitung The Times of India zitiert den Koran-Schüler mit den Worten: "In Zukunft werde ich vorsichtiger sein, wen ich auf Faceboook als Freund annehme."
Ronald Meinardus
© Qantara.de 2017
Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung in Neu Delhi.