Erdoğans Staat im Staat?
Es war einer der Momente, in denen die scheinbar grenzenlose Macht des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan einmal mehr sichtbar wurde. Vor zwei Wochen befand er sich auf dem Rückflug von einem Staatsbesuch in Aserbaidschan. Begleitet wurde er von Vertretern der regierungsfreundlichen Presse, die ihm gutwillige Fragen stellten.
Ein Journalist kritisierte, dass OdaTV bisher noch keine Anklage erhalten habe, das Medienportal sei schließlich einer der wichtigsten Initiatoren des "Umsturzversuches". Gemeint waren die Gezi-Proteste im Jahr 2013, bei denen große Teile der Zivilgesellschaft gegen die Regierung demonstrierten. OdaTV hätte den Staat und die Polizei in diesem Zusammenhang als "mörderisch" bezeichnet.
Erdoğan bedankte sich herzlich für die Einschätzung des Journalisten und kündigte an, sich darum zu kümmern. "Der Ball liegt jetzt bei der Justiz", so der Präsident. Eine Woche später leitete die türkische Justiz gegen Mitarbeiter von OdaTV Ermittlungsverfahren ein. Polizisten verhafteten den Chefredakteur Baris Pehlivan, den Nachrichtenchef Barış Terkoğlu und die Redakteurin Hülya Kilinc. Der Zugang zur Webseite wurde gesperrt.
Der Vorwurf: OdaTV habe über einen türkischen Geheimdienstoffizier berichtet, der im Krieg in Libyen ums Leben kam. Die Journalisten hätten "Informationen und Dokumente im Zusammenhang mit nachrichtendienstlichen Aktivitäten enthüllt". Diese Informationen hatte jedoch zuvor bereits ein Abgeordneter der oppositionellen Iyi-Partei bei einer Pressekonferenz im Parlament veröffentlicht. Das Verfassungsgericht hatte in einem Grundsatzurteil 2016 entschieden, dass Informationen keiner Geheimhaltung mehr unterliegen können, wenn sie zuvor der Öffentlichkeit bekannt waren.
Pelikan - ein alter Verdacht
Diese schnelle Einflussnahme auf die Justiz war für viele Beobachter und Nutzer der sozialen Medien ein weiterer Beweis dafür, dass eine Erdoğan nahestehende geheime Gruppierung die Justiz unterwandert habe. Seit Jahren verdichtet sich der Verdacht, dass die sogenannte Pelikan-Gruppe in der Türkei zunehmend an Einfluss gewinnt und einen Staat im Staate bildet. Die Gruppe bekam ihren Namen in der Öffentlichkeit in Anlehnung an den Justizthriller "The Pelican Brief", der als Hollywood-Film mit Denzel Washington und Julia Roberts bekannt wurde.
Der Journalist Alican Uludağ von der oppositionellen Tageszeitung "Cumhuriyet" hat keinen Zweifel an der Existenz der Gruppe. Seine Recherchen hätten ergeben, dass Pelikan bei den Festnahmen und der Zensur von OdaTV die Strippen gezogen hat, sagt er. "Journalisten, die für Pelikan tätig sind, haben die Verhaftungen öffentlich begrüßt und unterstützt. Und OdaTV berichtet seit vielen Jahren über die von Pelikan initiierte Umstrukturierung der türkischen Justiz."
Uludağ geht davon aus, dass die Justiz von einem Geflecht aus Pelikan-Mitgliedern durchzogen sei, das hätten ihm sogar Erdoğans Anwälte persönlich bestätigt. "Neben der politischen Einflussnahme weiß man wenig über die Finanzströme der Gruppe. Falls dieser Aspekt aufgedeckt werden wird, ist es wahrscheinlich, dass eine große kriminelle Vereinigung zum Vorschein kommt", glaubt der Journalist.
Erinnerungen an die Gülen-Bewegung
Der Präsident der Istanbuler Anwaltskammer Mehmet Durakoğlu hat mit 44 Anwaltskollegen gegen die Festnahme der Journalisten von OdaTV protestiert und eine gemeinsame Erklärung gegen politische Einflussnahme unterschrieben. Der Jurist äußert sich vorsichtiger zum mutmaßlichen Einfluss einer Pelikan-Gruppe. Er könne die Existenz der Gruppe nicht endgültig bestätigen, betont er. Aber es gebe ganz offensichtlich einen Machtkampf verschiedener Gruppierungen innerhalb der Justiz, nur ein Blinder sähe das nicht. Namen will er nicht nennen.
Sollte sich bewahrheiten, dass es Pelikan gebe, so bringe das ähnliche Probleme für die Unabhängigkeit der Justiz wie früher der Einfluss der Gülen-Bewegung. Die von dem Prediger Fethullah Gülen angeführte religiöse Gruppierung pflegte einst äußerst engen Kontakt zur türkischen Regierung und Justiz, namentlich zu Erdoğan. Mittlerweile sind Gülen und Erdogan erbitterte Gegner und die Bewegung wird in der Türkei als Terrororganisation eingestuft. "Wir haben damals schon aufgeschrien", sagt Durakoğlu in Erinnerung an das Gülen-Netzwerk. "Deshalb halten wir es für notwendig, gegebenenfalls erneut auf dieselbe Gefahr hinzuweisen."
Bereits beim Fall Kavala Mitte Februar hatte die türkische Öffentlichkeit über eine Einflussnahme durch Pelikan spekuliert. Der Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala wird beschuldigt, ein Organisator der Proteste am Gezi-Park 2013 gewesen zu sein. Nachdem er jahrelang in Untersuchungshaft gesessen hatte, wurde er im Februar überraschend wegen Mangels an Beweisen freigesprochen.
Wenig später kam ein neuer Haftbefehl - mit dem Vorwurf, Kavala stecke hinter dem Putschversuch im Juli 2016. Angeblich habe die Pelikan-Gruppe Druck auf die Istanbuler Staatsanwaltschaft ausgeübt, um Kavala im Gefängnis zu halten, so ein verbreitetes Gerücht.
Netzwerk mit Partei und Denkfabrik
Die Pelikan-Gruppe ist nach Einschätzung des türkischen Investigativ-Journalisten Alican Uludağ ein Flügel der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, die maßgeblich vom Finanzminister, Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak, geführte wird. Die Gruppe solle die Erdogan-Nachfolge vorbereiten und habe besonders großen Einfluss auf die Justiz des Landes, urteilt Uludağ.
Der Journalist Firat Erez ist ein ehemaliger Mitarbeiter der Istanbuler Denkfabrik Bosphorus Global. Sie gilt als Propagandainstrument der türkischen Regierung und Erez als Aussteiger der Pelikan-Gruppe. Er berichtet über regelmäßige Treffen mit dem türkischen Präsidenten. Die luxuriöse Zentrale der Gruppe - eine osmanische Holzvilla mit exklusiver Lage am Bosporus - und die Gehälter der Mitarbeiter seien von einem Privatkrankenhaus von Erdoğans engem Vertrauten, Leibarzt und Gesundheitsminister Fahrettin Koca finanziert worden.
Laut Erez ist die Pelikan-Gruppe Erdoğans Troll-Armee. Er gibt Einblicke in die perfide Medienstrategie von Pelikan: Die Gruppe versuche, politische Gegner in den sozialen Netzwerken zu verleumden und Desinformation zu streuen. "Trolle überziehen sie mit ungerechtfertigten Anschuldigungen und Drohungen." Das sei eine komplexe Strategie, die gegen mächtige Feinde angewendet werde, sagte Erez der türkischen Zeitung "Ahval".
Pelikan gegen Erdoğan-Konkurrenten
Bekanntestes Opfer einer solchen Verleumdungskampagne soll der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sein. Im Jahr 2016 veröffentlichte die Gruppe auf einem öffentlichen Blog ein Dossier, bekannt geworden als "Akte Pelikan", das 27 Punkte auflistet, die Davutoğlus angeblichen Verrat gegenüber dem "Oberhaupt" Erdoğan beweisen sollen. Das Dossier hetzte große Teile der türkischen Bevölkerung so sehr gegen den Ministerpräsidenten auf, dass er zurücktreten musste.
Die Pelikan-Gruppe soll auch versucht haben, die Kommunalwahlen in Istanbul am 31. März 2019 zu manipulieren, um einen Wahlsieg des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoğlu von der Sozialdemokratischen Partei (CHP) zu verhindern. In den sozialen Netzwerken hätte sie die Behauptung verbreitet, dass der CHP-Kandidat Stimmen gestohlen und einen "Putsch an der Wahlurne" angezettelt habe.
Wie weit reicht also der Einfluss der Pelikan-Gruppe? Ist sie Erdoğans Troll-Armee oder Erdoğans Schatten-Justiz oder beides? Viele Gerüchte ranken sich um die Gruppe. Wirklich klar ist eines: Die zahlreichen Spekulationen sind ein Zeichen für das tiefe Misstrauen weiter Teile der Bevölkerung gegenüber dem türkischen Staat und seinen Entscheidungsträgern.
Hülya Schenk & Daniel Derya Bellut
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