Mit Yunus Emre den Sufismus wiederbeleben

Die türkische TV-Serie “Yunus Emre” erfreut sich am Bosporus derzeit großer Beliebtheit. Doch nicht nur im Fernsehen ist in der Türkei ein wiederkehrendes Interesse an der Spiritualität der Sufis festzustellen, wie Marian Brehmer in Istanbul herausgefunden hat.

Von Marian Brehmer

Yunus steht im dunklen, von Kerzenschein erhellten Andachtsraum des Derwischkonvents, die Arme verschränkt, den Kopf leicht nach unten geneigt, seine Augen in Versunkenheit geschlossen. Er trägt den langen Flickenmantel und Turban eines islamischen Mystikers. Mit Schweißperlen auf der Stirn und einer vor Leidenschaft zitternder Stimme sprudelt die Dichtung nur so aus ihm hervor: Das Herz des Liebenden ist des Schöpfers Thron / Gott nimmt es als Sein eigen an / Wahrlich miserabel und bedauernswert / Ist jener, der ein Herzen bricht.

Um die Worte nicht so einfach verfliegen zu lassen - wie schon bei dem weltberühmten Mystiker Rumi, der in Konya seine rauschhaften Liebesgedichte aus dem Divan-e Shams in einem Zustand der Ekstase verfasst haben soll - hält ein weiterer Derwisch die Verse an einem Schreibpult fest und kommt dabei mit seiner Feder auf dem Papier kaum hinterher. Der Ort ist Nallıhan, ein Dorf hundert Kilometer westlich von Ankara; der Zeitpunkt gegen Ende des 13. Jahrhunderts.

Der Dichter Yunus Emre musste zunächst einen langen Erziehungsweg zurücklegen, um sein eigenes Ego zu überwinden. Unter der Anleitung von Tapduk Emre, einem charismatischen Sufi-Meister, vollzieht der stolze und äußerst selbstgefällige Scharia-Rechtsgelehrte eine Wandlung zum Gott zugewandten und einheitssuchenden Sufi.

Aufwendige Fernsehproduktion

Dies ist der Geschichtsstoff der Fernsehserie "Reise der Liebe", die in zwei Staffeln die Lebensgeschichte des anatolischen Volksheiligen Yunus Emre nacherzählt. Mit viel Liebe zum Detail, hervorragenden Schauspielern, fein einstudierten Dialogen, einer Spur von Drama und dem immer wiederkehrenden Soundtrack der Ney, der Sufi-Rohrflöte, hat der öffentlich-rechtliche türkische Fernsehsender TRT die Fernsehserie "Yunus Emre" aufwendig produzieren lassen.

Plakat TV-Serie "Yunus Emre" des öffentlich-rechtlichen Senders TRT; Quelle: TRT
Nimbus einer Heiligengestalt und TV-Ikone: Die 44-teilige Serie „Yunus Emre“, die in den Jahren 2015 und 2016 über die Bildschirme lief, war in der Türkei bei einem Millionenpublikum äußerst populär. Inzwischen hat es “Yunus Emre” sogar ins Sortiment des US-amerikanischen Online-TV-Anbieters Netflix geschafft.

Die 44-teilige Serie, die in den Jahren 2015 und 2016 über die Bildschirme lief, war in der Türkei bei einem Millionenpublikum äußerst populär. Inzwischen hat es "Yunus Emre" sogar ins Sortiment des US-amerikanischen Online-TV-Anbieters Netflix geschafft.

Damit erhält die Heiligengestalt Yunus Emre, anders als Rumi außerhalb der Grenzen der Türkei so gut wie unbekannt, erstmals internationale Aufmerksamkeit.

"Yunus Emre" ist auch der Namenspate für die 2007 von Erdoğan ins Leben gerufenen türkischen Sprach- und Kulturinstitute - das Pendant zum deutschen Goethe-Institut - die inzwischen in gut vierzig Ländern existieren.

Für die türkische Republik ist Yunus Emre in den letzten fast einhundert Jahren ihres Bestehens eine national-identitätsstiftende Figur gewesen: Auch wenn Atatürk die Derwischorden im Jahr 1925 verbieten ließ, hob man die Dichtung Emres gerne als beispielhaft türkisch hervor.

Anders als bei vielen Dichtern aus dem Sufi-Genre - auch aus späteren Jahrhunderten - sind seine Gedichte in einer simplen türkischen Sprache verfasst, die auch für Türken in der heutigen Republik noch mühelos verständlich ist.

Sufi-Dichtung als Teil der nationalen Identitätsstiftung

Emres Verse sind kaum durchsetzt von arabischen und persischen Wörtern, wie sie für das Osmanische so typisch sind, und sind deshalb seit Jahrzehnten als Musterbeispiel einer nationalen Dichtung eine fester Bestandteil des staatlichen Schulcurriculums. Dass diese Lyrik gespickt ist mit der Symbolik des Sufismus war dabei nicht so ausschlaggebend wie ihr Mehrwert für die türkische Sprachpolitik im frühen 20. Jahrhundert.

Der Erfolg der Yunus Emre-Serie zeigt aber noch eine weitere Entwicklung auf. Über Wochen, besonders an Ramadan-Abenden, schallten die Gleichnisse und Geschichten der Sufi-Lehren von Yunus Emre und seinem Sheikh durch zahllose türkische Wohnzimmer.

Familien beim Abendbrot  schauten original bekleideten Derwischen beim Dienen in der Küche oder akribischen Holzhacken, im Dialog mit dem spirituellen Meister oder während des berauschenden Zikr, der mantrahaften Gruppenrezitation der Sufis, zu.

Hierbei entfaltete sich vor ihnen eine geistige Welt, die seit den 1920er Jahren zu großen Teilen verloren gegangen ist. Was für viele Jahrhunderte fester Bestandteil der breiten gesellschaftlichen Realität in Anatolien war, wurde so für ein Millionenpublikum rekreiert.

Yunus Emre an der Wand eines Istanbuler Teehauses im Stadtteil Üsküdar mit zwei seiner berühmtesten Gedichtverse; Foto: Marian Brehmer
Ungebrochene Popularität im in der türkischen Öffentlichkeit: Für die türkische Republik ist Yunus Emre in den letzten fast einhundert Jahren ihres Bestehens eine national-identitätsstiftende Figur gewesen, schreibt Marian Brehmer.

Atatürk hatte die Sufi-Orden in der jungen türkischen Republik als Fortschrittsbremse gesehen: Zu konservative Ansichten, zu großen gesellschaftlichen und politischen Einfluss hatten die Ordensführer der Sufis im Osmanischen Reich, so dass sie für die Kemalisten zum Hindernis für die Modernisierung wurden. Jahrzehntelang hielten sich die Sufis daher mit ihren Praktiken im Untergrund, fungierten als Kulturvereine anstatt als spirituelle Orden. 

Wiederkehrendes Interesse an der Spiritualität der Sufis

Nicht nur im Fernsehen ist in der Türkei nun ein wiederkehrendes Interesse an der Spiritualität der Sufis zu bemerken, was auch in der liberaleren Politik der AKP-Regierung gegenüber den verschiedenen Sufi-Strömungen im Land liegt: Es wird wieder öffentlich zu Zeremonien eingeladen, in städtischen Kulturzentren unterrichten Sufi-Lehrer ein sinnhungriges Publikum, Sufi-Musik wird neu interpretiert, und türkische Autoren wie Elif Shafak popularisieren sufische Heiligengestalten wie Rumi und Schams von Täbris in ihren gefeierten Romanen.

Die Zuwendung zum Sufismus entsteht auch aus einem Gegenentwurf zum politisierten Islam heraus, mit dem sich viele junge Türken in den Städten nicht mehr identifizieren können. Ein wichtiges Prinzip der Sufis ist es schließlich, die innere Dimension religiöser Rituale über äußere Dogmen und Regeln zu stellen. Daraus ergibt sich eine Flexibilität und Offenheit, nach der sich im verhärteten gesellschaftlichen Klima der Türkei von heute viele sehnen.

Die freiheitsliebende, sprachschöne Gestalt des Yunus Emre kündet von einer solchen, aus dem Inneren erwachsenden Welt und lädt uns dazu ein — ob vor der Mattscheibe oder in aktiver Kontemplation seiner Verse: Such Gott nicht in der Ferne, nein! / Im Herzen hat die Wohnstatt Er / Gib ganz und gar dein Du-Sein auf / Dann leuchtet Er im Herzen auf!

Mariam Brehmer

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