"Wir haben eine starke politische Opposition"
Als die Deutsche Welle (DW) Osman Kavala Ende 2019 im Gefängnis besuchte, war er noch sicher, dass er bald entlassen würde. Doch es kam anders: Kavala blieb weiter hinter Gittern und wartete auf ein Urteil. Im April 2022 wurde er dann von einem Istanbuler Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der weltweite Aufschrei war groß, auch Deutschland gehörte zu den Staaten, die die Entscheidung des Gerichts scharf verurteilten. Kavala, Unternehmer, Bürgerrechtler, Kunstmäzen und Philanthrop, wird beschuldigt, die Gezi-Park-Proteste 2013 organisiert und finanziert zu haben. Die Proteste hatten sich damals zunächst gegen den Bau eines Einkaufszentrums in Istanbul, später dann gegen die autoritäre Regierungsführung von Präsident Recep Tayyip Erdogan gerichtet.
Für die DW-Dokumentation "Osman Kavala: Eine Stimme aus dem Gefängnis" konnte ihn DW-Reporterin Linda Vierecke noch einmal interviewen - diesmal schriftlich.
Herr Kavala, warum ist die Regierung so besorgt, Sie in Freiheit zu sehen?
Osman Kavala: Meine lange Inhaftierung trägt dazu bei, den Eindruck zu erwecken, dass die fingierten Anschuldigungen gegen mich zutreffend sind. Der Präsident hat mehrfach erklärt, dass meine Schuld der Grund für meine Inhaftierung ist. Diese Aussage kann auch so verstanden werden, dass meine Inhaftierung der Indikator für meine Schuld ist. Sollte ich freigelassen werden, würde sich herausstellen, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe frei erfunden sind und Gezi ein Schauprozess war.
Wie haben Sie sich vor zehn Jahren an den Gezi-Park-Protesten beteiligt?
Kavala: Als ich zum ersten Mal von dem Plan der Regierung erfuhr, ein Einkaufszentrum zu bauen, das den Gezi-Park völlig zerstören würde, schloss ich mich mit meinen Kollegen einer Kampagne an, um die Regierung und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das eine schreckliche Idee war.
Mein Büro liegt fast direkt neben dem Park. Ich konnte also die jungen Leute, die sich dort versammelten, beobachten und mit ihnen sprechen. Ich war beeindruckt von ihrer Entschlossenheit, den Park zu schützen, von ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und ihrem Geist der Solidarität. Die meisten von ihnen hatten keine Verbindungen zu einer Organisation, und wahrscheinlich war es für sie das erste Mal, dass sie an einer solchen Aktion teilnahmen.
Während der Proteste brachte ich einen Lautsprecher und einen Plastiktisch mit in den Park. Das - und ein paar Kekse - sind die Beweise, die einzigen Beweise, die in der Anklageschrift angeführt werden, um den Vorwurf zu untermauern, ich hätte die Proteste finanziert.
"Die Behauptungen waren absurd"
Was halten Sie von der Anschuldigung der Regierung, Sie würden hinter den Gezi-Protesten stecken? Das wurde nie bewiesen.
Kavala: Um in der Türkei heutzutage jemanden hinter Gitter zu bringen, ist der ernsthafte Versuch, eine angeblich kriminelle Handlung zu identifizieren und nach konkreten Beweisen dafür zu suchen, nicht mehr zwingend notwendig - solange die Regierung jemanden für schuldig hält.
In meinem Fall hatte Herr Erdogan schon damit begonnen, schwere Anschuldigungen gegen mich zu erheben, noch bevor überhaupt die Anklageschrift erstellt worden war. Ich denke, dass weder die Regierung noch die Staatsanwälte, die die Anklageschrift vorbereitet haben, tatsächlich an die absurde Behauptung glauben, ich hätte die Proteste in Zusammenarbeit mit George Soros geplant und organisiert.
Es war von Anfang an klar, dass sich die Proteste spontan entwickelten und keine zentrale Kommandostruktur hatten. (Anm. d. Red.: Kavala gehörte zu den Gründern des türkischen Zweigs der Open Society Foundation des US-Philanthropen George Soros, die demokratische Bewegungen fördert, ihre Aktivitäten in der Türkei 2018 allerdings eingestellt hat.)
Stimmen Sie dem Argument zu, dass die Regierung mit Ihrer Bestrafung versucht, eine Botschaft an die westliche Welt zu senden?
Kavala: Ich denke, dass mit meiner Verfolgung mehrere Botschaften vermittelt werden, die sich vor allem an das inländische Publikum richten. Wie auch in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2019 zu meinem Fall festgestellt wurde, vermittelt meine Verhaftung eine Botschaft an die Aktivisten der Zivilgesellschaft. Sie warnt sie davor, sich an Aktivitäten zu beteiligen, die von der Regierung als störend angesehen werden.
Das Narrativ der ausländischen Mächte, die angeblich eine Verschwörung gegen die Regierung organisieren, wurde verbreitet, um die Gezi-Ereignisse zu kriminalisieren. Es wurde zudem verwendet, um auch andere Demonstrationen in den Straßen zu stigmatisieren. Darüber hinaus ist dieser Prozess auch ein Beispiel für die Justiz, das ihr zeigt, wie sie im Einklang mit den Vorstellungen und Prioritäten der Regierung handeln und entscheiden soll.
Die eigentliche Botschaft lautet: Wenn der Präsident als souveräne Autorität eine Person für schuldig hält, dann kann weder das nationale noch das internationale Recht deren Verfolgung verhindern.
"Kunst kann mentale und emotionale Brücken bauen"
Sie haben sich viel in der Stadt Diyarbakir engagiert - insbesondere mit der kurdischen Gemeinschaft. Warum war das für Sie so wichtig? Haben Sie das jemals als ein gefährliches Engagement angesehen?
Kavala: Ich hatte in jungen Jahren die Gelegenheit, Diyarbakir und andere Städte im Südosten zu besuchen. Durch diese Erfahrung wurde mir klar, dass diese Region meines Landes sehr unterschiedlich ist. Meine Gespräche mit kurdischen Freunden halfen mir, besser zu verstehen, wie sie sich angesichts der repressiven und diskriminierenden Politik, der sie ausgesetzt sind, und der unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen in der Region, fühlen.
Ich dachte, dass die Förderung persönlicher Kontakte, die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen aus Istanbul und Diyarbakir zur Entwicklung von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen beitragen würde. Denn Vertrauen ist notwendig, um sich als Mitglied derselben Gemeinschaft zu fühlen.
Meiner Erfahrung nach tragen Kunst und künstlerische Programme wesentlich dazu bei, mentale und emotionale Brücken zu bauen - sie ermöglichen die Betrachtung und Diskussion von Fragen mit politischem Inhalt in einer nicht-antagonistischen Atmosphäre.
Warum hat Sie die Regierung Ihrer Meinung nach in den Fokus genommen?
Kavala: In der gegen mich vorbereiteten Anklageschrift heißt es, dass ich mit Minderheitengruppen zusammengearbeitet habe, um sie gegen die Regierung aufzuhetzen, und dass diese Aktivitäten unter dem Deckmantel kultureller Programme stattgefunden hätten. Wir arbeiten seit 20 Jahren im Südosten der Türkei, und es war das erste Mal, dass eine offizielle Behörde eine solche falsche Anschuldigung erhoben hat. Meiner Meinung nach zeigt dies, wie eine autoritäre Mentalität mit minderheitenfeindlichen Tendenzen im politischen Bereich zugenommen hat.
Warum haben Sie sich ausgerechnet in dieses "Minenfeld" begeben, wo Sie doch wissen, dass es gefährlich ist, sich in solche Themen einzumischen? Sie hätten sich einfach auf das Geldverdienen konzentrieren können, wie viele andere auch...
Kavala: Geld zu verdienen ist in Ordnung. Aber ich denke, dass es ein großes Privileg ist, in einer Gesellschaft zu leben, in der sich Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit als gleichberechtigte Bürger fühlen. Und in der Arme und Reiche die gleichen öffentlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. Die Überzeugung, dass man mit seiner Arbeit zum Entstehen einer solchen Gesellschaft beiträgt, gibt einem auch ein Gefühl der Bereicherung - trotz einiger Risiken, die damit verbunden sind.
"Im Sommer füttere ich die Spatzen"
Erzählen Sie uns von Ihrem Tagesablauf im Gefängnis: Was machen Sie mit Ihrer Zeit?
Kavala: Über die Bedingungen und die Behandlung hier kann ich mich nicht beklagen. Ich denke, dass dies eines der besser geführten Gefängnisse in der Türkei ist. Ich bin in einer Einzelzelle untergebracht und verbringe meine Zeit hauptsächlich mit Lesen, vor allem mit Belletristik, was für mich sehr wichtig ist, um meine geistige Gesundheit zu erhalten. Ich sehe mir die Nachrichten auf unabhängigen Fernsehkanälen an, außerdem bekomme ich täglich Zeitungen. Tagsüber habe ich die Möglichkeit, meinen kleinen Innenhof zum Spazierengehen zu nutzen.
Im Sommer füttere ich die Spatzen, die ihre Nester oben an der Mauer haben. Ich beobachte Möwen, die in Richtung Meer fliegen. Ich beobachte auch gerne die Wolken, ihre Formen und Bewegungen. Dadurch fühle ich mich der Natur näher.
Ich erhalte Briefe von Freunden und oft auch von Menschen, die ich vorher nicht kannte. Ich versuche, ihnen zu antworten. Mit meiner Frau kann ich jede Woche eine Stunde lang mit einer Glasscheibe zwischen uns telefonieren, einmal im Monat auch ohne den Bildschirm. Für die Treffen mit den Anwälten gibt es keine zeitliche Begrenzung.
Wenn der Kassationsgerichtshof (Anm. d. Red.: die letzte Instanz zur Überprüfung von Urteilen der Straf- und Zivilgerichte in der Türkei) das Urteil zu einer verschärften lebenslangen Haftstrafe bestätigt, werden die Bedingungen noch viel schlimmer.
Was war Ihre erste Reaktion auf das Urteil mit der verschärften lebenslangen Haftstrafe? Wie fühlen Sie sich jetzt?
Kavala: Ich habe mit einer mehrjährigen Haftstrafe gerechnet, da sie zur Rechtfertigung meiner langen und willkürlichen Inhaftierung notwendig war. Aber ich konnte nicht ahnen, dass man mich zu lebenslanger Haft verurteilen würde, und zwar mit denselben Beweisen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon für meine Verhaftung für unzureichend gehalten hat.
In den früheren Anhörungen hatte die Verlängerung meiner Haft ohne angemessene Begründung in mir ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit ausgelöst. Als ich das Urteil hörte, empfand ich tiefe Trauer über den Zustand des Justizwesens und über die Richter in meinem Land.
"Ich blicke hoffnungsvoll in die Zukunft der Türkei"
Es gibt viele Gefangene, die aufgrund von willkürlichen Entscheidungen inhaftiert oder verurteilt worden sind, und nicht wenige von ihnen sitzen schon länger hinter Gittern als ich. Ich denke jedoch, dass die verschiedenen Phasen dieses politischen Prozesses, die Verwendung verschiedener Anklagen, um meine Haftzeit zu verlängern - und schließlich dieses Urteil - die Manipulationen bei den Gerichtsverfahren in der Türkei und den Missbrauch des türkischen Strafsystems sehr deutlich machen. Ich versuche, meine innere Ruhe zu bewahren und warte auf einen politischen Wandel in meinem Land.
Die Wahlen stehen vor der Tür. Welche Hoffnungen und Befürchtungen haben Sie?
Kavala: Die Tatsache, dass sechs Oppositionsparteien aus verschiedenen Teilen des politischen Spektrums ein Bündnis eingegangen sind und dass sie ein detailliertes Programm ausgearbeitet haben, in dem sie darlegen, wie sie die Türkei gemeinsam regieren wollen, ist sehr vielversprechend.
Im Mittelpunkt des Programms stehen die Wiederherstellung der Rechte und Freiheiten, die Rückkehr zum parlamentarischen System und die Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz. Ich denke, dass die sich verschlechternde Wirtschaftslage und die Erfahrungen des Erdbebens - die das Gefühl verstärkt haben, dass die Regierung nicht in der Lage ist, das Leben ihrer Bürger zu retten - die Forderungen der Bevölkerung nach Veränderungen verstärkt haben.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der regierende Block aus AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) seine Mehrheitssitze im Parlament verlieren wird und Kemal Kılıçdaroğlu die Präsidentschaft gewinnen könnte. Die pro-kurdische HDP, die zwar nicht zu diesem Sechs-Parteien-Bündnis gehört, würde ihn wahrscheinlich trotzdem unterstützen.
Ich blicke hoffnungsvoll in die Zukunft der Türkei. Wir haben eine starke politische Opposition mit einer tief verwurzelten Tradition und einem gut organisierten Netzwerk. Bei den letzten Kommunalwahlen hat die Opposition fast alle Bürgermeisterämter in wichtigen Großstädten gewonnen. Es gibt Raum für demokratische politische und zivile Aktivitäten, die nicht unterdrückt werden können und die einen Übergang zu einem autoritären System verhindern würden - auch wenn die Opposition bei den kommenden Wahlen nicht gewinnen sollte.
Das Interview führte Linda Vierecke.
© Deutsche Welle 2023
Adaption aus dem Englischen: Nikolas Fischer