Im Schneckentempo zur Marktwirtschaft

Syrien müsste seine Wirtschaft zügig liberalisieren, um einen Zusammenbruch abzuwenden. Doch die Reformer erschöpfen sich an Verkrustungen, die 40 Jahre Sozialismus hinterlassen haben.

Von Gabriela M. Keller

Stockend kämpfen sich die Massen im Damaszener Altstadtsuk voran. In den kilometerweit verzweigten Gassen werden seit Jahrhunderten Geschäfte gemacht, und bis heute ist der Markt ein wichtiger Knotenpunkt von Syriens Wirtschaft geblieben.

"Import, Export, alles ist viel leichter geworden. Was ich heute aus China bestelle, ist zwölf Tage später bei mir im Laden", sagt ein Händler, der auf drei Quadratmetern 3000 Arten Bordüren aus Syrien, Europa und Fernost verkauft und weiter nach Jordanien liefert.

Doch nach wie vor gelten für viele Waren Sperren oder so hohe Zölle, dass sich der Import nicht lohnt, meint der Händler, der anonym bleiben will. Von einem freien Markt könne man so noch nicht reden. "Wir Händler warten und hoffen auf weitere Reformen."

Die Liberalisierung soll kommen, wenn es nach dem erklärten Willen des Präsidenten geht. Nach 40 Jahren Sozialismus hat Baschar al Assad im vergangenen Jahr die Kehrtwende zur Marktwirtschaft verkündet. Die politische Ordnung soll davon freilich unberührt bleiben.

Privilegien für die Oberschicht

Syriens Wirtschaft wird von wenigen mächtigen Familien beherrscht. Diese Clans haben Zugriff auf große Aufträge, Monopole, lukrative Lizenzen und somit kein Interesse an Reformen. Zudem hat sich die staatliche Patronage als Instrument der Machtsicherung bewährt: Solange die Oberschicht ihre Privilegien erhält, wird sie das Regime stützen.

Und seitdem Syrien vor zwei Jahren außenpolitisch in Bedrängnis geriet, hat al Assad mehrfach betont, "Sicherheit" habe nun oberste Priorität. Im Klartext heißt das, dass jede Öffnung hintangestellt wird, sofern sie die Stabilität des Regimes gefährden könnte.

Hauptsächlich ist das politisch zu verstehen, doch auch wirtschaftlich, meint ein Experte aus Diplomatenkreisen, "sind die Reformen mittlerweile fast zum Stillstand gekommen."

Indes nähert sich die Wirtschaft dem Zusammenbruch. "Die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent", sagt der Wirtschaftsprofessor Madian Ali. "Dieses Problem müssen wir dringend lösen." Denn jährlich drängen 300.000 weitere junge Menschen auf den Arbeitsmarkt.

Reformtempo reicht nicht aus

"Was wir brauchen, ist ein starker Privatsektor", sagt der Wirtschaftsberater und frühere Weltbankökonom Nabil Sukkar. "Der private Anteil am Bruttoinlandsprodukt hat sich in den vergangenen 20 Jahren von 40 auf 60 Prozent erhöht, aber das ist lange nicht genug."

​​Um Unternehmern Gestaltungsraum zu schaffen, wurden zwar bereits einige Zölle und Steuern gesenkt, Handelssperren aufgehoben und Investitionsgesetze flexibilisiert. Erste Privatbanken und -versicherungen haben eröffnet, und 2007 soll Syrien sogar eine Börse bekommen. Damit ist die Wirtschaft 2005 bereits um geschätzte 2,9 Prozent gewachsen – gegenüber einem Durchschnittswachstum von 1,8 Prozent in den Jahren 1999 bis 2004.

Doch das Reformtempo, fürchten Experten, reicht nicht aus, um Syrien für die Globalisierung zu wappnen. "Unsere wichtigsten Zweige sind Textil und Agrarprodukte", sagt Sukkar, "aber wir müssen die Qualität steigern, ehe wir international wettbewerbsfähig sind."

Derweil versickern die Mittel des Staates im maroden öffentlichen Sektor, im Militär sowie in der aufgeblähten Bürokratie. Noch decken Öl-Einnahmen die Kosten, doch langsam versiegen die Reserven: Schon 2010 könnte Syrien zum Netto-Importeur werden.

"Würden wir bei Subventionen rational vorgehen und die Korruption in den Griff bekommen, könnten wir in zukunftsträchtige Zweige investieren", meint Madian Ali. "So aber sind wir von Mitteln von außen abhängig." Allein, Investitionen bleiben aus: Die USA haben Sanktionen verhängt; zudem schrecken Korruption und die unsichere Rechtslage westliche Geschäftsleute ab.

Assoziierungsabkommen auf Eis

"In Syrien wird Politik ohne Willen zum Risiko betrieben", kritisiert Frank Hesske, Delegationsleiter der EU-Kommission in Damaskus. "So sind umfassende Reformen schwer durchzusetzen."

Damit bleibt auch der Handel mit der EU mit einem Umsatz von sechs Milliarden Euro im Jahr schwach. Eigentlich hätte ein Assoziierungsabkommen Syrien längst enger an Europa binden sollen, doch seit zwei Jahren liegen die Verträge auf Eis. Die EU nahm Abstand, als Syrien wegen seiner Rolle im Libanon in die Kritik geriet.

Eine neue Wende hat der Libanonkrieg diesen Sommer eingeleitet: "Wir haben wieder entdeckt, dass Syrien ein entscheidender Partner ist", sagt Hesske. "Daher wird überlegt, wie man Syrien zu einer konstruktiven Politik bewegen kann."

Wirtschaftliche Hilfe könnte ein Anreiz sein. Auch habe das Land als Standort durchaus Vorteile: "Es ist ein Markt mit hoher Kaufkraft. Zudem ist die zentrale Lage im Nahen Osten strategisch günstig."

Erste westliche Direktinvestition

Das französische Unternehmen Bel Cheese, das die Käsesorten La Vache Qui Rit und Kiri produziert, hat diese Vorteile erkannt: Als erstes Beispiel einer direkten westlichen Investition hat Bel Cheese 2005 eine Fabrik nahe Damaskus in Betrieb genommen.

​​"Wir haben die Chance ergriffen, uns auf einem quasi jungfräulichen Markt zu etablieren", sagt Projektmanager Antoine Hanna. "Ich hatte 1997 schon einmal für Bel Cheese eine Untersuchung gemacht. Damals war Syrien noch nicht bereit."

Jetzt habe er das Land positiv verändert vorgefunden – auch wenn noch zahlreiche praktische Hürden im Weg standen: "Es hat zum Beispiel ein Jahr gedauert, bis wir hier Internet hatten."

Doch entwickelt sich das Geschäft gut, sagt Hanna. Später sei geplant, von Syrien aus die gesamte Region zu bedienen: "Und das ist ein Markt mit 300 Millionen Kunden."

Gabriela M. Keller

© Qantara.de 2006

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