Die Krise des Mullah-Kapitalismus

Die Wirtschaftsmisere des Iran liegt im politischen System des Landes begründet. Auch wenn Teile der Sanktionen nach einem neuen Atomdeal aufgehoben werden sollten, würde es deshalb kaum zu einer Erholung der iranischen Wirtschaft kommen, schreibt Ali Fathollah-Nejad in seiner Analyse.

Von Ali Fathollah-Nejad

Wirtschaft und Politik sind in der Islamischen Republik untrennbar verbunden. Denn die postrevolutionäre Elite im Land hat die politische und ökonomische Macht in ihren Händen konzentriert. Sie trat ursprünglich mit dem Anspruch an, das Schah-Regime zu ersetzen, um den Ärmsten der Gesellschaft, den sog. Mostazafin (den Besitzlosen oder Entrechteten) beizustehen. Tatsächlich jedoch entwickelte sich die Islamische Republik zu einer oligarchischen Herrschaft und reproduzierte damit den Klassengegensatz unter der Monarchie, nur mit anderer Besetzung. Sinnbildlich wird diese Kontinuität dadurch veranschaulicht, dass der Thron des Monarchen lediglich durch den Turban der Ayatollahs ersetzt wurde.

Die Grundlage hierfür wurde bereits während der Islamischen Revolution 1979 gelegt, als die neuen Machthaber einen beachtlichen Teil des Vermögens der Schah-Elite konfiszierten. Damit erschufen sie die sog. religiösen Stiftungen (Bonyâd), die zwar formell zur Unterstützung ebenjener Mostazafin gegründet und sogar teilweise nach ihnen benannt wurden. Doch entwickelten sie sich bald zu kommerziell-klerikalen Komplexen, mit denen sich die neuen Machthaber bereichern konnten.

Damit einhergehend hat die Islamische Republik eine ideologische Grundierung der politischen Ökonomie durchgesetzt; eine von den Khomeinisten implementierte Zweiteilung der Gesellschaft in Regime-Insider (Khodi) und Regime-Outsider (Qeyr-e Khodi): also einerseits in jene, die Teil des Herrschaftsapparates und der dominierenden Clans oder zumindest ihnen gegenüber loyal sind und dadurch einen privilegierten Zugang zu Macht und Ressourcen genießen; und andererseits jene, die nicht dazugehören und von ebenjenen Vorteilen ausgeschlossen sind. Diese unsichtbare Mauer eines "theokratischen Apartheid-Staates“ (Mohssen Massarrat) hat bis heute kaum von ihrer Wirkmächtigkeit eingebüßt.

Der Brain Drain kostet das Land Milliarden

Da für viele Regime-Outsider die Karrierechancen verbaut sind, bleibt zahlreichen gut ausgebildeten jungen Iranerinnen und Iranern entweder nur die Ausübung von Berufen, für die sie überqualifiziert sind und die oftmals prekär sind (so entstand eine eine neuartige Schicht von sog. Middle Class Poor, also Armen aus der Mittelschicht) oder die Migration.

Studentinnen auf dem Campus der Universität Teheran; Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture-alliance
Studentinnen auf dem Campus der Universität Teheran: Immer mehr Akademiker verlassen das Land, weil sie keine Jobs bekommen, die ihrer Qualifikation entsprechen. Nach offiziellen Angaben waren es zuletzt jährlich bis zu 40.000 Iranerinnen und Iraner. Dieser Brain Drain kostet das Land jährlich schätzungsweise 150 Milliarden US-Dollar – mehr als es im Jahr durch die Ölexporte einnimmt. Zuletzt hatten auch iranische Behörden angesichts dieser "intellektuellen Ausblutung“ Alarm geschlagen. Allein in den vergangenen drei Jahren hätten knapp 4.000 Ärztinnen und Ärzte sowie circa 300.000 Akademiker mit Master- oder Doktortitel dem Land den Rücken gekehrt, darunter im Jahr 2020 auch 900 Hochschuldozenten.





Nach offiziellen Angaben haben zuletzt jährlich bis zu 40.000 gebildete Iranerinnen und Iraner das Land verlassen. Dieser Brain Drain kostet das Land jährlich schätzungsweise 150 Milliarden US-Dollar – mehr als es pro Jahr durch die Ölexporte einnimmt. Zuletzt hatten auch iranische Behörden angesichts dieser "intellektuellen Ausblutung“ Alarm geschlagen.



Allein in den vergangenen drei Jahren hätten knapp 4.000 Ärztinnen und Ärzte sowie circa 300.000 Akademiker mit Master- oder Doktortitel dem Land den Rücken gekehrt, darunter im Jahr 2020 auch 900 "gut ausgebildete“ Hochschuldozenten. Entgegen westlichen Annahmen hat sich dieser Brain Drain auch während der Phase von Sanktionslockerungen nach dem Atomdeal von 2015 unter dem als gemäßigt verklärten Präsidenten Hassan Rohani fortgesetzt.

Nachdem die nachrevolutionäre Dekade der 1980er Jahre von Planwirtschaft in einem vom achtjährigen Krieg gegen den Irak gebeutelten Land geprägt war, setzte ab den 1990er Jahren ein Prozess der Neoliberalisierung der Wirtschaft ein. Dabei war die iranische Variante des Neoliberalismus anders als die westliche, denn sie war stets illiberal und wurde zu einer klientelistischen Privatisierung pervertiert. Eine Schicht von Nouveaux Riches entstand, die das Forbes-Magazin als "Mullah-Millionäre“ bezeichnete.

Wie auch im vorrevolutionären Iran sind die sog. Renten-Einkommen aus dem Öl- und Gasverkauf zentral für die Wirtschaft. Obgleich der Anteil der Öleinnahmen am Jahresbudget gesunken ist, stellen sie immer noch den Großteil der überaus wichtigen Deviseneinnahmen dar – und dies obgleich Iran über eine facettenreiche industrielle Infrastruktur verfügt. Somit sind die größten Wirtschaftseinheiten in der Islamischen Republik allesamt staatlich oder halbstaatlich und fungieren als quasi monopolkapitalistische Einheiten. Nach Größe geordnet sind dies: Die staatliche Ölgesellschaft NIOC (National Iranian Oil Company) gefolgt vom Wirtschaftsimperium der Islamischen Revolutionswächter (IRGC), das schätzungsweise bis zu Zweidrittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht und dessen Budget im Staatshaushalt stetig wächst.



An dritter Stelle steht ein klerikal-kommerzieller Komplex bestehend aus einem Netzwerk von Bonyâds, die keinerlei öffentlicher Rechenschaft unterliegen und steuerbefreit sind. Er macht schätzungsweise ein Fünftel des BIP aus. Die wohlhabendste religiöse Stiftung ist die Bonyâd-e Âstân-e Qods-e Razavi, die von März 2016 bis April 2019 unter dem Vorsitz von Irans heutigem Präsidenten Ebrahim Raisi stand. Berufen hatte Raisi damals der Oberste Führer Ali Khamenei. Danach wurde Raisi zum Justizchef ernannt. In der Wirtschaft der Islamischen Republik ist der Privatsektor äußerst marginalisiert, obwohl er die Arbeitsplätze schafft und nicht die staatliche Ölindustrie, die zwar kapitalintensiv ist, aber kaum Arbeitskräfte braucht.

Straßemszene aus Teheran; Foto: Tasnim B. Adel
Wer profitiert von wirtschaftlicher Erholung? Nach dem Atomdeal von 2015 waren das vor allem halbstaatliche Unternehmen in der Hand von regimetreuen Eliten. Gleichzeitig hat sich insgesamt die Einkommensungleichheit weiter verschärft. Es sei deshalb ist wichtig, schreibt Ali Fathollah-Nejad, "diese Erfahrung im Hinblick auf eine Wiederbelebung des Iran-Handels nach der gegenwärtig anvisierten Revitalisierung des Atomdeals im Kopf zu behalten, will man denn durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit eine nachhaltige Entwicklung befördern, die nicht nur die Herrschenden bereichert und die soziale Kluft weiter vertieft.“

So grassieren im Iran eine auch im internationalen Vergleich hohe Vetternwirtschaft, Korruption und Misswirtschaft, die auch eng mit Inkompetenz verzahnt sind, zumal Posten oft aus ideologisch-politischen Erwägungen und nicht nach Qualifikation vergeben werden.

Die sozioökonomische Krise entlädt sich in revolutionären Protesten

Es ist just diese politische Ökonomie der Islamischen Republik, die eng mit der zunehmenden sozioökonomischen Misere des Landes verbunden ist. So haben überwiegend die oben genannten halbstaatlichen Unternehmen vom Wirtschaftsaufschwung nach dem Atomdeal von 2015 profitiert, während sich insgesamt die Einkommensungleichheit weiter verschärfte. Es ist wichtig, diese Erfahrung im Hinblick auf eine Wiederbelebung des Iran-Handels nach der gegenwärtig anvisierten Revitalisierung des Atomdeals im Kopf zu behalten, will man denn durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit eine nachhaltige Entwicklung befördern, die nicht nur die Herrschenden bereichert und die soziale Kluft weiter vertieft.

Denn diese Kluft hat bereits zu großer sozialer Frustration unter den Iranern geführt, die sich in den landesweiten Anti-Regime-Protesten zur Jahreswende 2017/18 entlud. Zum ersten Mal gingen dabei die unteren Schichten – quasi die heutigen Mostazafin en masse mit radikalrevolutionären Slogans gegen das gesamte Regime auf die Straße und nahmen alle Teile der herrschenden Elite, ob klerikal oder militärisch, Reformisten oder Hardliner, gleichermaßen ins Visier.

Für die Elite war das ein Schock, zumal die Demonstranten normalerweise als soziale Basis des Regimes und als zumindest loyal ihm gegenüber gelten. Diese historisch veränderte Dynamik zwischen den Armen und einer nunmehr oligarchischen Herrschaft in der Islamischen Republik ist denn auch in den Protesten vom November 2019 zutage getreten – diesmal waren mit offiziell 200.000 Teilnehmern viermal so viel wie knapp zwei Jahre zuvor dabei. Somit steigt die Frequenz landesweiter Revolten – und vieles deutet darauf hin, dass man diese Entwicklung als Beginn eines "langwierigen revolutionären Prozesses“ begreifen sollte, wie ihn auch die Länder des "Arabischen Frühlings“ erleben.

Währenddessen öffnet sich die soziale Schere weiter. Gut die Hälfte der Iraner lebt unter dem Armutslevel (offiziell sind es 30 Prozent) und die Mittelschicht schrumpfte in den letzten Jahren empfindlich – beide Entwicklungen bergen enorme politische Sprengkraft.

Iran ist Mitglied der Shanghai Cooperation Organization; Foto: Salam Pix/Abaca/picture-alliance
2021 wurde Iran (hier Präsident Raisi) in die Handelsorganisation Shanghai Cooperation Organization aufgenommen. Um die Folgen der westlichen Sanktionen abzufedern, orientiert sich das Land zunehmend nach Asien. Iran-Experte Ali Fathollah-Nejad hält jedoch die Wirtschaftsprobleme des Iran für in erster Linie hausgemacht. "Die strukturell bedingte Wirtschaftskrise der Islamischen Republik könne weder durch eine ökonomische Erholung nach der Lockerung von Sanktion nach einem wiederbelebten Atomdeal ausreichend gelindert werden wird, noch ist es wahrscheinlich, dass das dann wohl einsetzende Wirtschaftswachstum bis zu den 'normalen Menschen' durchsickern wird,“ schreibt er. "Somit wird die sozioökonomische Krise das Land weiterhin beuteln“. Von der Elite sei kaum eine Politik zu erwarten, die die explosive soziale Frage entschärfen könnte.



Außerdem wuchs im Jahr 2020, trotz COVID-19-Pandemie und massiven US-Sanktionen, die Zahl der iranischen Dollar-Millionäre um 21,6 Prozent auf 250.000, während sie weltweit aber nur um 6,3 Prozent stiegen. Der Forbes-Bericht von Mitte 2021 mit diesen Daten erschien just zu dem Zeitpunkt, als sich bislang beispiellose Streiks der Leih- und Werkvertragsarbeiter in der Ölindustrie ausweiteten. Das monatliche Durchschnittsgehalt eines iranischen Arbeiters beläuft sich auf weniger als umgerechnet 200 US-Dollar.

Sanktionen und Wirtschaftskrise

Beim Thema US-Sanktionen und Wirtschaftskrise könnten die Lesarten zwischen den Ökonomen in Europa und im Iran selbst kaum eklatanter auseinanderklaffen. Während erstere ausländische Sanktionen für das Gros der Wirtschaftskrise verantwortlich machen, sehen inländische Experten den Einfluss von Sanktionen als eher marginal an und machen die zuvor genannten einheimischen Probleme unangefochtenen als Hauptgrund für die Misere aus.

Unter dem Strich kann man sagen, dass die strukturell bedingte Wirtschaftskrise der Islamischen Republik weder durch eine ökonomische Erholung nach der Lockerung von Sanktion nach einem wiederbelebten Atomdeal ausreichend gelindert werden wird, noch ist es wahrscheinlich, dass das dann wohl einsetzende Wirtschaftswachstum bis zu den „normalen Menschen“ durchsickern wird. Somit wird die sozioökonomische Krise das Land weiterhin beuteln, während von der Elite kaum eine Politik zu erwarten ist, die die explosive soziale Frage entschärfen könnte. Denn auch der ökonomische Populismus des neuen Präsidenten Raisi hat bislang keinerlei materielle Früchte für die Bevölkerung getragen, trotz eines beispiellosen Zugangs zu Reichtum einer nunmehr von Hardlinern dominierten politischen Elite.

Ali Fathollah-Nejad

© Qantara.de 2021

Ali Fathollah-Nejad promovierte in Internationalen Beziehungen am Department of Development Studies an der School of Oriental and African Studies der Universtät London. Er ist Autor von "Iran in an Emerging New World Order: From Ahmadinejad to Rouhani“, Palgrave Macmillan’s Studies in Iranian Politics, 2021 sowie Initiator & Co-Host des Berlin Mideast Podcast der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

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