Die ewigen Rivalen
Frau Tonsy, 2013 wurde Mohammed Mursi abgesetzt, der bislang erste demokratisch gewählte Staatspräsident Ägyptens. Das Militär erklärte damals, die Muslimbruderschaft sei eine Gefahr für die Gesellschaft. Gab es damals überhaupt Beweise für diese Behauptung?
Sara Tonsy: Die Muslimbruderschaft hat gezeigt, dass sie im Falle eines Falles in der Lage ist, ähnlich zu agieren wie das Mubarak-Regime mit seiner Brutalität und seinem Klientelsystem. Schon vor der Revolution 2011 gab es eine spürbare Ablehnung von Mursi und der Agenda der Muslimbrüder. Der Bruch mit den Unterstützern der Bruderschaft im Jahre 2013 war nur die Spitze des Eisbergs. Nachdem Mursi zum Präsidenten gewählt worden war, konnte die Muslimbruderschaft die sozialen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Anhänger nicht länger bedienen. Auf diesen Aspekt verwies bereits Marie Vannetzel in ihrem Buch: The Muslim Brothers in Society: Everyday Politics, Social Action, and Islamism in Mubarak’s Egypt von 2021 (dt. Die Muslimbrüder in der Gesellschaft: Alltagspolitik, soziales Handeln und Islamismus im Ägypten von Mubarak).
Die alte Rivalität zwischen den Muslimbrüdern und der Armee flammte nach 2011 offen wieder auf. Das erinnert an die Lage in Ägypten nach dem Putsch der Freien Offiziere von 1952, als jede Seite den Diskurs dominieren und das Volk "für sich gewinnen“ wollte. Nach beiden Machtwechsenl kam es zu Gewalt. Schließlich übernahmen jeweils diejenigen die Macht, die das Narrativ kontrollieren konnten – nach 2011 das Militär unter General al-Sisi. Seit 2013 gilt jede Opposition gegen das herrschende Regime als "Gefahr für die Gesellschaft“. Selbst die Schlagzeilen über die "Irhabiyyun“ (Terroristen) erinnern an Artikel, wie sie die staatliche ägyptische Zeitung al-Ahram bereits 1954 veröffentlicht hat.
Ringen um die Macht
Wo liegen die Ursprünge dieser Rivalität? Wie wird die Muslimbruderschaft wahrgenommen, seitdem Abdel Fattah al-Sisi Präsident ist?
Tonsy: Die Rivalität geht auf die 1940er Jahre zurück, als eine Gruppe oppositioneller Armeeoffiziere – die Freien Offiziere – ebenso wie die Führung der Muslimbruderschaft versuchten, die politische Macht zu erlangen. Diese Bestrebungen sind im Kontext der nationalistischen Bewegung gegen die damalige britische Besatzung zu sehen. In dieser Zeit wuchs die Zahl der Muslimbrüder, unter anderem dank eines Programms, das auf der fünften Konferenz der Bewegung im Jahr 1939 verabschiedet wurde.
In Abhandlungen über die 1940er Jahre in Ägypten und die politische Szene werden die Freien Offiziere häufig erwähnt, so auch in dem Werk "Al-hayat al-siyasiya fi misr“ (dt. Politisches Leben in Ägypten) des ägyptischen Denkers und Rechtsgelehrten Tariq al-Bischri.
Khaled Mohieddin, einer der Freien Offiziere und ein enger Freund von Staatspräsident Gamal Abdel Nasser, berichtet in seinen Memoiren von einer Begegnung zwischen Nasser und dem Gründer und ersten Geistlichen Führer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā. Nasser amüsierte sich damals über Al-Bannās Vorschlag, die Muslimbruderschaft und die Freien Offiziere sollten sich gegen die britische Besatzung zusammenschließen.
Einer meiner Gesprächspartner, ein ehemaliges Mitglied der Führungsriege der Muslimbruderschaft, hat dann aber berichtet, dass sich die Freien Offiziere und die Muslimbruderschaft nicht auf ein Datum für den Staatsstreich verständigen konnten, zu dem es dann schließlich 1952 kam.
Mit Blick zurück auf das Jahr 2011, wie sehr hat sich Ihrer Meinung nach die Beziehung zwischen diesen beiden Gegenspielern verändert?
Tonsy: Die Rivalität lebte 2011 wieder stärker auf, als beide Akteure zu politischen Rivalen um die Macht im Staat wurden. Beide kannten sich sehr genau und hatten im Umgang miteinander viel Erfahrung.
Die Versuche zusammenzuarbeiten oder eine Kooperation auszuhandeln, scheiterten allerdings nach 2011 an dem Unvermögen, Kompromisse bei Fragen von Macht und Status zu schließen. Der poltische Prozess ist wie bei jedem zeitgenössischen Regime durch Kontinuität, aber auch durch Brüche gekennzeichnet. Interessant an der Machtdynamik im Verhältnis zwischen ägyptischer Armee und Muslimbruderschaft war das Wiederaufleben dieser Beziehung. Die Frage ist, wie beide Akteure in ihren Diskursen aufeinander reagierten und wie sich ihre organisatorischen Ähnlichkeiten und die Verbreitung ihrer politischen Botschaft auf ihre Rivalität und letztlich auf die Politik in Ägypten auswirkten.
Ein Muster wiederholt sich
In der Einleitung nennen Sie Ihr Buch einen Versuch, "Widersprüche des Bewusstseins" zu skizzieren, und stellen die These auf, die Ereignisse in Ägypten von 2013 seien Teil eines Musters und einer Kontinuität. Was verstehen Sie unter "Widersprüche des Bewusstseins“? Implizieren Sie damit, dass die ägyptische Revolution ein Misserfolg war?
Tonsy: Ich denke, es ist zu früh, um von einer Niederlage oder einem "Misserfolg“ der Arabellion in 2011 zu sprechen. Immer noch haben viel zu viele Menschen mit den Folgen der Revolution von 2011 zu kämpfen, als dass man sie für beendet erklären könnte. Die Folgen der Revolution sind in der politischen Dynamik heute noch präsent, bei den politischen Akteuren an der Spitze – und in der Zivilgesellschaft, die abwesend war, als es um die Festlegung der politischen Spielregeln ging. Wir haben es mit einem wiederholten Muster zu tun, bei dem es ebenso sehr um die Kontinuität im ägyptischen Staat wie um die Kontinuität der beteiligten politischen Akteure geht.
Wenn Sie auf die Ereignisse im Jahr 2019 und die Demonstrationen in Kairo und anderen Städten blicken, sehen Sie darin eine Fortsetzung oder einen Bruch mit der Revolution von 2011?
Tonsy: Die Demonstrationen im Jahr 2019 lassen sich nicht mit dem Arabischen Frühling von 2011 vergleichen. Die Rolle des Staates und der politischen Akteure war eine andere. Ähnlichkeiten gibt es aber durchaus bei Ereignissen der letzten Jahre in anderen Ländern wie Algerien oder dem Sudan. Hier könnte ein Vergleich in Zukunft sinnvoll sein. In beiden Fällen kam es wie bereits im Jahr 2011 zu Massendemonstrationen und Aufständen. Der Bevölkerung gelang es, sich zu versammeln, während die Armee in beiden Ländern unschlüssig war, auf welcher Seite sie stehen sollte. Die Folgen wirken noch heute auf die Entwicklung in Algerien und im Sudan nach.
Inwiefern haben sich die Beziehungen zwischen Ägypten und dem Westen seit 2011 verändert?
Tonsy: Nach 2011 haben viele Wissenschaftler, vor allem solche, die damals im Land waren, diejenigen kritisiert, die behaupteten, das Land habe keine Zivilgesellschaft oder Bürgerbewegungen. Auf einer strategischen Ebene hat Russland sein Engagement in der Region verstärkt. Sei es durch konkrete Interventionen wie in Syrien oder durch verschiedene Formen der materiellen Unterstützung für Ägypten. Nach dem Arabischen Frühling waren die Beziehungen zwischen Ägypten und den Vereinigten Staaten zunächst angespannt, verbesserten sich aber schließlich wieder und Ägypten ging eine ganze Reihe von Partnerschaften mit anderen westlichen Ländern ein.
Das Interview führte Tugrul von Mende
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Sara Tonsy, "The Egyptian Army and the Muslim Brotherhood: Contemporary Political Power Dynamics“, Routledge 2022