Neue deutsche Gesamtausgabe des "Masnawi"
Nicht von ungefähr wurde das Masnawi von Dschalaluddin Rumi (1207-1273) immer wieder als “Koran in der persischen Sprache” bezeichnet. Das Masnawi ist nach dem Koran wohl jenes Werk, welches das Denken, vor allem aber die innere Gefühls- und Erfahrungswelt von Muslimen auf dem spirituellen Weg am nachhaltigsten geprägt hat. Zwischen dem Balkan im Westen und Südasien im Osten diente und dient es bis heute Sinnsuchern als Lebensstütze und Erkenntnisquelle.
Als Lehrwerk in der Adepten-Schulung wurde das Masnawi in mystischen Orden — allen voran der türkischen Bruderschaft der Mevlevis — zum Medium, durch das Rumi als Meister auch Jahrhunderte nach seinem physischen Tode wirkt und in aller Frische und Lebendigkeit Menschen in die Tiefen ihrer selbst führt.
Ein iranischer Masnawi-Gelehrter, der seit Jahrzehnten aus dem Buch unterrichtet, es dutzende Male vom ersten bis zum letzten Vers studiert hat, sagte einmal, es gebe keine Frage auf dem spirituellen Weg, die das Masnawi offen ließe.
Das Masnawi ist aber auch ein Stück Weltliteratur, eingebettet in die wohl ergiebigste spirituelle Lyriktradition der Menschheitsgeschichte, die persische Sufi-Dichtung. Während Rumis Poesie in den USA seit Jahren in aller Munde ist, tut man sich hierzulande mit einem Zugang zum Dichter weiterhin schwer.
Auf der anderen Seite des Atlantik landeten Rumi-Bände gar auf Bestsellerlisten — sodass Pop-Ikone Beyoncé sogar eine ihrer Zwillingstöchter “Rumi" nannte — wenn auch diese Bände häufig aus vereinfachten oder zum Teil verfälschten Versionen (nicht Übersetzungen!) bestehen, denen es an einer wirklichen Kenntnis des historischen, theologischen und weltanschaulichen Kontexts von Rumis Lehre mangelt.
Im deutschsprachigen Raum machte die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922-2003) als erste Teile von Rumis Werk einer breiten Leserschaft zugänglich. Von Schimmel stammt etwa die 1988 erschienene Übersetzung des Fihi ma fihi (Rumi: Von Allem und vom Einen, Diederichs Gelbe Reihe), zudem übertrug sie Teile des Masnawi und Diwan-e Schams ins Deutsche. Im frühen 21. Jahrhundert erschien das Masnawi in deutscher Prosa, nun jedoch ist das sechsbändige Werk zum ersten Mal vollständig in Versform herausgegeben worden.
Der Übersetzer dieser Gesamtübersetzung ist der Deutsch-Schweizer Otto Höschle, ein studierter Germanist und Anglist, der jahrelang für das Rote Kreuz in arabischen Staaten sowie im Iran und Afghanistan arbeitete und dabei Arabisch und Persisch lernte. Auf einem Podium des “Sufi-Festivals” in der Hamburger Elbphilharmonie, die dem mystischen Islam im November ein viertägiges Programm aus Konzerten, Ausstellungen und Gesprächsabenden widmete, berichtete Höschle von seiner Arbeit an dem vielschichtigen Text.
Rumi in der Elbphilharmonie
“Schimmel hat in ihren Teilübersetzungen des Masnawi gereimt, aber dabei auch verfälscht. Dadurch dass ich ungereimte Blankverse verwende, konnte ich meine Arbeit genauer tun”, sagte Höschle, begleitet von einem lyrischen Gedichtvortrag, vor dem aufmerksamen Publikum, das für diesen Rumi-Abend an die Elbe gepilgert war.
Die Frage des Moderators, ob er denn selbst schon einmal eine mystische Erfahrung gehabt habe, beantwortete Höschle mit der Schilderung eines persönlichen Wandlungserlebnisses in Verbindung mit dem Schweizer Nationalheiligen Nikolaus von Flüe im Kanton Oberwalden, wo Höschle seit Beginn der 1960er Jahre lebt.
Tatsächlich ist die Frage nach Erfahrung, die manche der Zuhörer überrascht haben mag, bei Rumi eine sehr zentrale: Ein Zugang zu einem Werk wie dem Masnawi lässt sich eben nicht durch die rein wissenschaftliche, vermeintlich objektive Brille gewinnen, sondern nur durch einen gewissen Grad an geistiger Durchdringung und empirischer Lebensreife, idealerweise in Verbindung mit einer spirituellen Praxis. Oder wie Rumi im 18. Vers des ersten Buches spricht: “Der Rohe kann den Reifen nicht verstehen, deshalb sei meine Rede kurz. — Salām!”
Motiviert durch seine eigene spirituelle Suche nahm Höschle in den 1990er Jahren ein Studium der Islamwissenschaften auf und beschäftigte sich mit den Lehren der Sufis. Dabei entdeckte er Parallelen zur christlichen Mystik, etwa zu Meister Eckhart. Damals begann Höschle, einzelne Gedichte von Rumi, Hafez oder Attar ins Deutsche zu übersetzen. “Nichts kann einem Dichtung wohl näher bringen, als der Prozess des Übersetzens”, so Höschle im Interview.
Mit der Zeit entstand der Traum, das Masnawi zu übersetzen. Doch zunächst schreckten ihn die Schwierigkeiten der poetischen Sprache und die Herausforderungen des Farsi ab — die Ambivalenz etwa im persischen Pronomen der dritten Person (“û”), welches sich je nach Kontext auf ein männliches oder weibliches Wesen beziehen kann, oder die zahlreichen Sprachspiele und Finessen, die sich im Deutschen kaum wiedergeben lassen.
Eine beachtliche verlegerische Leistung
Die Übersetzung und Herausgabe einer zweibändigen Masnawi-Ausgabe von 25.000 Tausend Versen auf über 1500 Seiten ist eine beachtliche verlegerische Leistung, die nur aus einer festen Überzeugung um die Bedeutung dieses Werkes herrühren kann.
Dem Projekt nahm sich der Chalice Verlag an; ein Haus, das sich seit fast dreißig Jahren darum verdient gemacht hat, einem deutschsprachigen Publikum leise auftretende, aber umso gehaltvollere spirituelle Literatur zu erschließen, der sich mangels verlegerischem Mut und der nötigen Expertise große Verlage kaum annehmen.
Der Chalice Verlag, 1994 gegründet mit Sitz im niederrheinischen Xanten, möchte “Sinn suchenden Wanderern in unserer materialistisch verhafteten Welt gehaltvolle spirituelle Literatur als Wegzehrung anbieten”.
Schwerpunkte des Verlags sind Neuübersetzungen aus dem umfangreichen Oeuvre des andalusischen Mystikers Muhyiddin Ibn Arabi, Schriften zeitgenössischer Weisheitslehrer wie John G. Bennett und Reshad Feild, Neuauflagen von Büchern Annemarie Schimmels sowie der christlichen Mystik.
Dass das Hauptwerk Rumis, der wie alle Mystiker seiner Zeit voraus war und gleichzeitig im Zeitlosen lebte, in einem Verlag Platz gefunden hat, der sich gegen den Zeitgeist stemmt — jener Untergangsstimmung vieler Verlage angesichts von Digitalisierung, Corona und gestiegenen Publikationskosten — ist umso erfreulicher.
Höschles Übersetzung dieses, wie er es treffend in seiner Einleitung bezeichnet, “mystagogischen Lehrgedichts” wirkt flüssig, wenn auch der Gebrauch einer dichterisch-alten Sprache mancherorts dem Leser viel Konzentration abverlangt - und zeugt von einer eingehenden Beschäftigung mit der Materie des Textes.
Natürlich ist jede Übersetzung immer auch Interpretationssache, wobei die tiefere Dimension sich erst in der eigenen Kontemplation der Verse erschließt. Eine weitere Herausforderung liegt im assoziativen Erzählstil von Rumi, der dem Leser den roten Faden immer wieder aus der Hand reißt und ihn dabei geradezu herausfordert, seinen begrenzten, ordnenden Verstand zurückzulassen.
Man wünscht dem Werk, das in den Jahren 2020 und 2021 in zwei Bänden erschienen ist, eine breite Leserschaft. Auch für das deutsche Publikum im 21. Jahrhundert sei das Masnawi unterhaltsam und lehrreich, egal ob der Leser dem Spirituellen zugeneigt ist oder nicht — genauso wie Fariduddin Attars Vogelgespräche, ein vom Umfang wesentlich schmaleres Werk, das Rumi als Vorlage für das Masnawi diente und ebenfalls von Höschle übersetzt wurde.
Die Menschen im konkreten Alltag neu sehen
Die Menschen könnten in diesen beiden Werken “entdecken, wie modern so manches ist, was die Dichter da vor uns ausbreiten: die alle Zeiten überdauernde Situation des Menschen in der Welt, seine existenzielle Geworfenheit in ein leidgeprägtes Diesseits und seine Sehnsucht nach einer besseren Welt”, so Höschle. “Sich auf die Weltsicht dieser Dichter und somit der Sufis einzulassen, heißt auch, die Menschen im ganz konkreten Alltag neu zu sehen, sich selbst in ein empathisches Verhältnis zu ihnen zu setzen.”
Den Schlüssel dazu sieht Höschle in der Identifikation des Lesers mit den unzähligen Charakteren im Buch: “Zahlreiche Anekdoten Rumis, Ereignisse aus dem alltäglichen Leben, sind zum einen erheiternd, zum andern Mitleid erregend, immer aber so berührend, dass wir uns selbst in ihnen erkennen. Dabei spüren wir, dass die Menschen über die Zeiten und Weltgegenden hinweg im Kern sich stets gleich blieben. Somit kann Rumis Werk – richtig gelesen – einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten.”
© Qantara.de 2022
Rumi, Masnawi. Erster Band: Buch I–III, Chalice Verlag Xanten 2020
Rumi, Masnawi. Zweiter Band: Buch IV–VI, Chalice Verlag Xanten 2021
Attar, Vogelgespräche, Chalice Verlag Xanten 2022