Vielfältige Lesarten des Korans
Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit mit den Aspekten der islamischen Tradition um, von denen Sie denken, dass sie heutigen Vorstellungen von Frauen- und Kinderrechten zuwiderlaufen?
Nasr Hamid Abu Zaid: Jede Tradition hat sowohl negative als auch positive Aspekte. Die positiven Aspekte müssen weiter entwickelt werden, während die negativen besonders intensiv zu diskutieren sind, um festzustellen, ob es sich dabei wirklich um essentielle Elemente des Glaubens handelt oder um von Menschen nachträglich hinzugefügte.
Wie verhält sich diese Arbeit zu dem, was Sie zuvor getan haben?
Abu Zaid: Ich denke, das alles gehört zu meinem schon lange bestehenden Interesse an der islamischen Hermeneutik, also der Methode zum Verständnis des Korans, der Sunna und anderer Elemente der islamischen Tradition. Im Besonderen beschäftige ich mich mit einigen Annahmen im volkstümlich-islamischen Diskurs, die man noch nicht genügend untersucht hat und die im Allgemeinen auch ignoriert und gemieden wurden. Islamgelehrte haben beispielsweise bisher nicht ernsthaft darüber nachgedacht, was genau damit gemeint ist, wenn wir sagen, dass der Koran das offenbarte "Wort Gottes" ist. Was genau haben wir unter diesem "Wort Gottes" zu verstehen? Und was bedeutet "Offenbarung"?
Die traditionellen Ulama (islamische Rechtsgelehrte) geben uns die Definitionen für das Wort und auch die Offenbarung, aber andere Definitionen sind auch möglich. Wenn wir vom "Wort Gottes" sprechen, meinen wir dann einen göttlichen oder einen menschlichen Übermittlungscode? Ist die Sprache ein neutraler Kommunikationskanal?
Bestand die Verantwortung des Propheten lediglich darin, die Botschaft zu überbringen oder spielte er auch bei der Formulierung dieser Botschaft eine wie auch immer geartete Rolle? In welchem Verhältnis steht der Koran zu dem besonderen sozialen Kontext, in dem er offenbart wurde? All dies müssen wir fragen, wenn wir uns darüber klar werden wollen, was es für den muslimischen Glauben bedeutet, wenn die menschliche Dimension in die Offenbarung mit hinein gebracht wird.
Wollen Sie damit sagen, dass der Koran nicht verstanden werden kann, wenn der besondere soziale Kontext im Arabien des 7. Jahrhunderts nicht mit berücksichtigt wird? Oder gibt es, mit anderen Worten, Aspekte des Korans, deren Relevanz und Anwendbarkeit auf die Zeit des Propheten beschränkt waren und heute nicht mehr relevant und anwendbar sind?
Abu Zaid: Ich meine nur, dass wir bei unserer Interpretation des Korans weder die Rolle des Propheten, noch die historischen und kulturellen Voraussetzungen oder den Kontext der koranischen Offenbarung außer Acht lassen dürfen. Wenn wir sagen, dass Gott in der Geschichte durch den Koran sprach, können wir die historische Dimension, den historischen Kontext Arabiens im 7. Jahrhundert, nicht unberücksichtigt lassen. Andernfalls lässt sich nicht erklären, warum Gott in seinen Offenbarungen an die jüdischen Propheten zuerst Hebräisch "sprach", dann Aramäisch zu Jesus und schließlich Arabisch, in Form des Korans.
Nach historischem Verständnis des Korans müssten auch die Verse im Text in den Blick genommen werden, die sich ausdrücklich auf den Propheten beziehen und auf die Gesellschaft, in der er lebte. Einige Menschen mögen glauben, dass es einem Verbrechen gegen den Islam gleichkommt, sich dem Koran in dieser Weise zu nähern, doch ich glaube, dass eine solche Reaktion nur ein Zeichen eines schwachen und verletzlichen Glaubens ist.
Dies ist ja auch der Grund, warum einige Autoren, die sich der Tradition widersetzten und eine Lesart des Korans anmahnten, die den historischen Kontext der Offenbarung ernst nimmt, in vielen Ländern verfolgt wurden. Dabei denke ich, dass es eine dringende Notwendigkeit gibt, die historische Dimension zu diskutieren, weil wir nur dann eine Chance haben, sowohl religiös wie politisch autoritären Strukturen wirksam zu begegnen und die Menschenrechte voranzubringen.
Können Sie ein Beispiel dafür geben, in welcher Weise eine historisch begründete Interpretation des Korans der Durchsetzung der Menschenrechte dienlich sein könnte?
Abu Zaid: Nehmen Sie als Beispiel doch nur einmal das Abhacken der Hände bei überführten Dieben ("Hadd"-Strafe). Traditionalisten sehen darin ein typisch "islamisches" Strafmaß, das sie auch weiterhin so gelten lassen wollen. Ein historisch begründetes Verständnis der islamischen Tradition aber würde schnell den Beweis führen, dass es sich dabei um eine Anleihe aus der vor-islamischen arabischen Gesellschaft handelt und in einem ganz speziellen sozialen und historischen Kontext verwurzelt ist.
Deshalb ließe sich argumentieren, dass eine Abschaffung dieser Form der Bestrafung keinesfalls gleichbedeutend mit einer Abschaffung des Islam als Ganzem wäre. Indem wir den Koran in dieser Weise in seinen Kontext stellen, könnten wir vielmehr zu seinem eigentlichen Kern vordringen, der wiederum als für alle Zeiten verbindlich gelten könnte, indem wir ihn also von dem entkleiden, was lediglich einem bestimmten historischen Kontext verhaftet ist, der heute nicht mehr existiert.
Wenn man die Geschichte also ernst nimmt, welche Sicht hätte dann eine kontext-orientierte, historisch begründete Lesart des Koran auf die islamische Theologie, wie sie sich bis heute entwickelt hat?
Abu Zaid: Wie ich es sehe, ist der sunnitische Zweig der muslimischen Theologie zu großen Teilen wie eingefroren auf dem Stand, der bereits im 9. Jahrhundert von den konservativen Aschariten geformt wurde. Wir müssen die fundamentalen theologischen Konzepte, die von der sunnitischen Ulama im Großen und Ganzen ignoriert wurden, heute grundlegend neu überdenken, denn ohne eine Reform in der Theologie kann es auch keine Reformen der muslimischen Gesellschaften geben. Bis heute verließen die meisten Reformbestrebungen in der sunnitischen Welt nicht den Rahmen der traditionellen Theologie, weshalb sie nie sehr weit gekommen sind.
Welche Auswirkungen hätte das von Ihnen angeregte neue Verständnis der Theologie auf die Frage der interreligiösen Beziehungen?
Abu Zaid: Wenn ich sage, dass wir darüber nachdenken sollten, was genau mit dem Begriff "Wort Gottes" gemeint ist, meine ich damit, Muslime sollten daran denken, dass es der Koran selbst ist, der darauf besteht, das "Wort Gottes" nicht allein als dem Koran zugehörig anzusehen. Ein Vers im Koran sagt, dass, wenn alle Bäume auf der Welt Federn wären und alles Wasser in den Meeren Tinte, sie alle zusammen nicht in der Lage wären, das Wort Gottes niederzuschreiben.
Der Koran repräsentiert deshalb nur eine der möglichen Manifestationen des absoluten Wortes Gottes. Andere Schriften repräsentieren andere Manifestationen. Viele Sufis sahen sogar das ganze Universum als Manifestation des Wortes Gottes. Heute aber nehmen nur wenige muslimische Gelehrte den Dialog zwischen den Religionen so ernst, wie er es verdiente. Die meisten muslimischen Autoren müssen sich noch vom strikten, einengenden Chauvinismus befreien.
Wie geht diese Lesart des Korans mit den vielen unterschiedlichen Arten um, in denen der Text verstanden und interpretiert werden kann?
Abu Zaid: Der Koran kann wie jeder andere Text auch in unterschiedlichen Weisen gelesen werden und es gab deshalb immer eine Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen. Der Text existiert nicht für sich selbst. Um zu seiner Bedeutung zu gelangen, muss er interpretiert werden und Interpretation ist eine menschliche Tätigkeit – und Menschen sind fehlbar.
Wie schon Imam Ali sagte: Der Koran spricht nicht durch sich selbst, sondern durch die Menschen. Und auch wenn Muslime überall auf der Welt gewisse Rituale und Überzeugungen teilen, so gehen ihre Meinungen darüber, was der Islam und der Koran im Einzelnen meint, doch in vielem weit auseinander. Es ist an uns, neue Wege zu finden, den Islam in einer Weise zu verstehen, die den Menschenrechten zum Durchbruch verhilft und gleichzeitig fest in der Glaubenstradition verwurzelt ist.
Interview: Yoginder Sikand
© Qantara.de 2010
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de