Auf der Suche nach der Essenz des Lebens
"Wonach auch immer wir suchen, es ist bereits in uns.“ In schwunghaften Linien von rechts nach links sind die Farsi-Buchstaben an der Tafel erschienen. Sie enthalten die Quintessenz eines Gedichts, das wir soeben gelesen hatten — oder es zumindest versuchten. Wir, das waren Studenten aus Korea, Nordamerika, Italien und Deutschland, die sich in einem Klassenzimmer im Norden Teherans im Lesen von Sufi-Poesie aus dem 13. Jahrhundert übten.
Uns verband eine Begeisterung für das Persische, jene Sprache, in der Dschalaluddin Mohammed Rumi (1207-1273) gedichtet hat. Rumi gilt vielen als größter Meister der spirituellen Dichtung des Islam. Alle Schulen des Sufismus beziehen sich auf sein Werk und seine humanistische, hoffnungsvolle und weitherzige Interpretation des Islam.
Um die Seele von Rumis Lehre zu erspüren, hat niemand mir mehr geholfen als mein Teheraner Persisch-Professor und Masnawi-Lehrer. Sein Name soll hier keine Rolle spielen, wohl aber, wie mir früh auffiel, dass Rumi in sein ganzes Wesen übergangen ist. Was das heißt? Ich kenne kaum jemanden, der mit solcher Hingabe und Ruhe unterrichtet, so dass die Minuten in seinem Klassenzimmer zur Meditation werden.
Die Güte, Bescheidenheit und Herzenswärme meines Professors lassen erahnen, wie die kontinuierliche Beschäftigung mit Rumi den Charakter eines Menschen veredeln mag; oder, um einen Sufi-Ausdruck zu verwenden, den Herzensspiegel poliert.
Die persisch-mystische Dichtung schaffe, so schrieb der iranische Philosoph Seyyed Hossein Nasr in einem Essay, "eine Art himmlische Atmosphäre für die Seele zum Atmen“. Mein Professor liest seit vielen Jahren täglich im Masnawi, Rumis 26.000 Verse umfassenden Meisterwerk. An manchen Tagen verbringt er viele Stunden mit dem Buch.
"Jedes Mal, wenn ich das Masnawi aufschlage, ist es, als läse ich es zum ersten Mal. Es ist immer frisch und großartig”, erklärte er mir bei einem Gespräch zwischen prall gefüllten Bücherregalen in seinem Büro. "Ich habe ein Gefühl, als werde ich aus Zeit und Ort herausgerissen.” Dann zog er eine alte Ausgabe des Masnawi aus dem Regal, die er in seinen Studentenjahren gekauft hatte. Auf dem Einband war eine Zeichnung von Rumi mit Bart und Turban abgebildet, die in ihren grellen Grün- und Blautönen fast ein wenig psychedelisch wirkte.
Lebendiger Meister auf dem spirituellen Weg
Etwas mehr als 2000 Kilometer weiter westlich, im zentralanatolischen Konya, zieht das Grabmal von "Mevlana” (unser Meister) jährlich hunderttausende Besucher an — darunter fromme Dorfpilger aus Anatolien genauso wie Sufischüler, Poesie-Liebhaber, Sinnsucher und Kulturtouristen aus allen Ecken der Welt. Im Mevlevi-Orden, dessen Schulungssystem auf Mevlanas Lehre fußt, gilt das Masnawi als ein Buch, durch das Rumi bis heute wie ein lebendiger Meister Menschen über den spirituellen Weg leitet.
Das Masnawi führt den Leser mithilfe von scheinbar simplen Erzählungen und Gleichnissen nach innen, steckt den spirituellen Pfad mit all seinen Herausforderungen ab und geht den existenziellen Fragen des Menschendaseins auf den Grund. Zwischen dem Balkan und Ostasien hat das Buch das spirituelle Leben der Muslime so nachhaltig geprägt, dass es als "Koran auf Persisch” bekannt wurde.
Rumi begann erst im Alter von vierzig Jahren zu dichten, nachdem er im Zusammensein mit seinem Meister Schams eine Transformation vom stolzen Theologen zum liebestrunkenen Mystiker durchgemacht hatte. Diese Transformation wurde durch die Erfahrung des existenziellen Trennungsschmerzes von seinem Freund und Mentor, und letztlich vom göttlichen Ursprung, beschleunigt. Rumi selbst beschreibt diesen Prozess in einem berühmten Vers: “Ich war roh, kochte und verbrannte”.
Dichtung wurde für Rumi zum Medium, durch das er seine Einsichten und Erlebnisse an die Schüler weitergeben konnte. Auch wenn sich die Erfahrung des Göttlichen nie ganz in Worte fassen lässt, ist Poesie für die Sufis jene Sprachform, die ihrem Erleben am nächsten kommt. Dichtung hat etwas Ambivalentes und Geheimnisvolles, wie auch die mystische Erfahrung.
Doch letztendlich lamentiert Rumi immer wieder über die Grenzen der Sprache. Er fordert den Leser immer wieder auf, still zu werden (chāmusch!) und die Wahrheit nicht in Gedichten, sondern in der Stille selbst zu erfahren.
Innerer Frieden, umfassende Liebe und Lebensfreude
Mevlanas Poesie gibt dem Leser einen kleinen Geschmack von den Erfahrungen, die dieser auf seinem Weg der Reifung gemacht haben mag. Der Mensch kann diese Zustände — genannt ahwāl im Vokabular der Sufis — von innerem Frieden, umfassender Liebe und Lebensfreude in Rumis Poesie nachempfinden. Rumis Verse, erklärte mein Teheraner Professor, bringen "eine tiefe innere Zufriedenheit, einen süßen inneren Frieden sowie eine herrliche Begeisterung und Leidenschaft in mein Leben.“
Dann fügte er hinzu: "Beim Lesen dieser Verse wird dein ganzes Wesen gereinigt und geläutert. Das Leben verändert sich. Äußerlich tue ich immer noch dieselben Dinge, zum Beispiel esse, laufe oder spreche ich mit meiner Frau. Doch all dies passiert mit mehr Tiefe, mit einer klaren Ausrichtung und einem Gefühl der inneren Expansion.“
Rumi selbst war sich bewusst, welche Rolle seine Dichtung für die Nachwelt spielen sollte. An einer Stelle im dritten Masnawi-Buch singt er: "Komm, sprich! Denn der Logos gräbt einen Kanal, damit etwas Wasser die Generation nach uns erreichen kann." Heute lässt sich in Teherans zahlreichen Buchläden kaum ein Schaufenster finden, in dem nicht Rumis Werke ausliegen.
Auf der Revolutionsstraße gegenüber vom Zentralcampus der Universität Teheran spreche ich mit einem Buchhändler. Kommentare des Masnawi, meint er, seien in den letzten Jahren sehr gefragt; ganz besonders der siebenbändige Sammelkommentar des Literaturwissenschaftlers Karim Zamani, eine Zusammenführung der wichtigsten Masnawi-Abhandlungen aus den letzten Jahrhunderten.
Dieses Werk, das ein ganzes Regalfach ausfüllt und andernorts allenfalls einer hochgebildeten Leserschaft vorbehalten wäre, geht hier über den Ladentisch wie ein Roman.
Gegenentwurf einer inspirierten Spiritualität
Für viele Iraner, die die politisierte Verballhornung ihrer Religion als Machtinstrument satt haben, ist Rumis Lehre der Gegenentwurf einer inspirierten Spiritualität. Rumis Verse spenden Trost in wirtschaftlich und politisch schweren Zeiten.
"Ich habe mich oft gefragt, warum ich Iranerin bin. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass es einen Grund geben muss, warum ich hier geboren bin”, sagte mir die Fotografin Sara, nachdem wir ein Gedicht aus dem Diwan-e Schams gelesen hatten. "Jetzt kann ich verstehen, warum. Wenn meine Sprache nicht Farsi wäre, müsste ich mich sehr anstrengen, um Rumi zu lesen. Dies ist etwas, was mir in meinem Leben geschenkt wurde.”
Nicht nur im Iran, in Rumis Geburtsland Afghanistan oder seinem Lebensmittelpunkt Anatolien ist das Erbe des muslimischen Heiligen auch heute lebendig. In den USA standen Rumi-Anthologien jahrelang auf Bestsellerlisten. In Deutschland war es ein Verdienst der Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel, uns Rumi originalgetreu näherzubringen.
Auch hierzulande wird Rumis im 750. Jahr seines Todes gedacht. Doch wir sollten dem Mystiker dabei nicht nur als musealem Poeten aus einer fernen Vergangenheit huldigen, sondern versuchen, seine zeitlosen Lehren in die Gegenwart zu holen.
Sie erinnern den selbstvergessenen Menschen immer wieder an das Wesentliche im Leben. Rumi beharrt darauf, die Suche nach Erfüllung in einer sich ständig wandelnden äußeren Welt aufzugeben und statt dessen den Schatz im Inneren zu heben. Herrscht im Inneren des Menschen kein Frieden, so manifestiert sich dieser Unfrieden im Außen in Form von Spaltung und Kriegen — eine Ebene, die oft vergessen wird, wenn wir uns fragen, warum es in der Geschichte immer wieder zu neuem Blutvergießen kommt, ob an den Grenzen Europas oder anderswo.
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Marian Brehmer hat Iranistik studiert und schreibt als freier Autor mit dem Schwerpunkt islamische Mystik. Er ist Autor des Buches "Der Schatz unter den Ruinen: Meine Reisen mit Rumi zu den Quellen der Weisheit” (Herder, 2022), ein spiritueller Reisebericht, der von Begegnungen mit Sufis, Suchenden und Weisen in Afghanistan, Iran, Syrien und der Türkei erzählt.