Neuer Blick auf arabische Literatur
Frau Hetzl, wie sind Sie auf den Namen 10/11 gekommen?
Sandra Hetzl: Da gibt es mehrere Aspekte. Zum einen habe ich nach einem Namen gesucht, der sowohl im Arabischen als auch im Englischen leicht auszusprechen ist. Zahlen sind da ideal, weil sie in jeder Sprache anders geschrieben und ausgesprochen werden können. Konkret sind diese Zahlen eine Hommage an die Jahre 2010/2011, als die Volksaufstände in vielen arabischsprachigen Ländern begannen. Für mich stehen diese Aufstände unter anderem für das Bedürfnis, sich auszudrücken. Sie waren zudem geprägt von einer echten Experimentierfreude – auch im literarischen Sinne.
Die Zahlen 10/11 lösen aber auch etwas Zweideutiges aus: Wenn man "teneleven“ im Englischen hört, denkt man unwillkürlich an den 11. September 2001, das Datum, das auf tragische Weise das internationale Interesse auf den arabischsprachigen Raum und – wenn auch nur am Rande – auf dessen literarische Produktion lenkte. Dieses Interesse war jedoch eher dem Bedürfnis geschuldet, seinen Feind besser kennenzulernen. Die Publikationen mussten also ein enges und sehr spezifisches Interesse befriedigen. In diesem Sinne schlägt 10/11 eine neue Seite auf.
Frau Halls, wo liegen Ihre Interessen als Agentur und nach welchen Kriterien wählen Sie die Autorinnen und Autoren aus, die Sie vertreten?
Katharine Halls: In erster Linie legen wir Wert auf ein hohes literarisches Niveau. Außerdem gibt es bestimmte typische Eigenschaften unserer Autorinnen und Autoren: Sie sind meist relativ jung und in den Metropolen zu Hause – nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Europa und Nordamerika. Und dann sind da noch unsere persönlichen Vorlieben. Als Leserinnen mögen wir markante Stimmen – wie die von Rasha Abbas, die einfach unverwechselbar ist. Ich betrachte sie stets als eine Art arabischer Miranda July.
Kein westlicher Blick
Wir interessieren uns auch für drängende, international relevante Texte, die sich mit unserer Zeit und unseren Umständen auseinandersetzen. Ich glaube, das ist es, was uns in der Welt der übersetzten arabischen Literatur auszeichnet. Denn wir interessieren uns nicht so sehr für farbenfrohe Geschichten aus entlegenen Gegenden oder für Berichte über brandaktuelle Themen, für die sich der Westen gerade begeistert.
Wir wollen von Autoren hören, die die Auswirkungen des Spätkapitalismus, der Umweltzerstörung und des wiedererstarkenden Rechtspopulismus genauso erleben wie wir und die eine spannende und nachdenkliche Perspektive anzubieten haben, die Leser in aller Welt anspricht.
Sie vertreten eine bemerkenswerte Reihe von Autoren. Gehen Sie auf die Autoren zu oder kommen die Autoren auf Sie zu? Nehmen Sie auch Manuskripte an?
Hetzl: In den meisten Fällen geht die Initiative von uns aus. Mit vielen Autorinnen und Autoren arbeiten wir schon lange zusammen. Manche Kontakte entstehen durch Tipps anderer Autoren oder durch aufmerksame Leser, mit denen ich ähnliche Vorlieben teile. Als kleine Agentur können wir ohnehin nur eine begrenzte Anzahl von Autoren und Titeln betreuen, um auf höchstem Niveau arbeiten und unser unverwechselbares Profil bewahren zu können. Wir hätten gar nicht die Zeit, viele Einsendungen zu lesen. Aber natürlich sind wir für immer dankbar für Hinweise und Empfehlungen.
Der eigene Geschmack ist ausschlaggebend
Wie Katharine schon sagte, ist bei der Auswahl unser eigener Geschmack ausschlaggebend. Daraus machen wir kein Geheimnis. Insgesamt wachsen wir langsam und organisch. Anfang 2024 werden Katharine und Alice Guthrie als drittes Mitglied unseres Teams nach Marokko reisen, um dort zu lesen und zu übersetzen. Vielleicht werden wir schon bald einige marokkanische Titel in unser Programm aufnehmen.
Sind die einzelnen Autorinnen und Autoren bestimmten Agentinnen zugeordnet? Oder betreuen Sie sie gemeinsam, aber in verschiedenen Bereichen? Wie vermeiden Sie Überschneidungen?
Halls: Da wir nur zu dritt sind, können wir ohne starre Strukturen sehr eng zusammenarbeiten und flexibel bleiben. In der Regel hat jede von uns bereits bestehende Beziehungen zu den jeweiligen Autorinnen und Autoren, deren Arbeit uns sehr am Herzen liegt. Denn darum geht es schließlich bei 10/11. Ich kümmere mich zum Beispiel um Shady Lewis und betreue seine Werke auf dem deutsch- und englischsprachigen Markt. Sein Roman "Auf dem Nullmeridian“, der im Frühsommer dieses Jahres bei Hoffmann und Campe erschienen ist, war mein erster Ausflug in die deutsche Verlagswelt.
In anderen Fällen teilen wir uns die Arbeit nach Zielsprachen auf: Bei Haytham el-Wardany, dessen Werke Sandra und ich beide bereits übersetzt haben, bin ich für das Englische zuständig und Sandra für das Deutsche. Die Liebe zu seinem Werk war übrigens eines der ersten Dinge, die uns miteinander verbanden. Ein Vorteil ist, dass wir alle unsere Kontakte und Ressourcen gemeinsam nutzen können. Das macht unsere Zusammenarbeit effizienter und auch inniger, als wenn jeder für sich übersetzen würde.
Was reizt Sie besonders an der Arbeit als Literaturagentin?
Hetzl: Was mich als Literaturagentin antreibt, deckt sich im Grunde mit dem, warum ich 10/11 überhaupt gegründet habe. Als Literaturübersetzerin sehe ich mich nicht als jemand, der nur Auftragsarbeiten für Verlage erledigt. Ich möchte kein Instrument zur Verwirklichung bereits vorhandener Ideen sein. Meine Kolleginnen und ich haben einen viel tieferen Einblick in die interessanten Dinge, die in der arabischen Literaturproduktion vor sich gehen, als die meisten westlichen Verleger.
Ich will die Richtung ändern, in die das Wissen fließt. Ich will nicht nur verändern, wie übersetzt wird, sondern auch, was veröffentlicht wird. Ich wollte eine Plattform schaffen, von der aus wir Verlegern von unseren Entdeckungen berichten können. Was mir an meiner Arbeit als Agentin weniger gefällt, ist der Umgang mit Zahlen und Verträgen. Aber das ist zum Glück nur ein Teil meiner Arbeit.
Gespür für gute Autoren
Die kommenden Arbeiten von Salma El Tarzi klingen vielversprechend. Das zeigt auch, welch breites Spektrum Sie vertreten: Graphic Novels, Theatertexte, Kurzgeschichten, Romane, Memoiren und vieles mehr. Ist das nicht eine besondere Herausforderung?
Halls: Salma El Tarzis Werk ist fantastisch. Sie ist eine talentierte Künstlerin, ein scharfer politischer Kopf und eine wunderbare Schriftstellerin. Ihr neues Werk An Attempt to Remember My Face, das man lesen, sehen und anfassen kann, dürfte eines der bewegendsten und nachdenklichsten literarischen Werke sein, die über die ägyptische Revolution von 2011 geschrieben wurden. Ein Auszug daraus ist in englischer Übersetzung auf Asymptote zu lesen.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es war sicherlich eine Herausforderung für mich, dieses besondere Buch zu platzieren, da ich mich in der Welt der Kunstverlage nicht so gut auskenne, aber ich lerne nach und nach dazu. Unsere Belletristik- und Sachbuchtitel machen uns das Leben in dieser Hinsicht etwas leichter. Aber es stimmt schon, dass wir einen sehr guten Überblick über die Verlagswelt haben müssen, und das ist manchmal gar nicht so einfach.
Sind Sie offen für Neuzugänge, zum Beispiel, wenn jemand gut in Ihr Team passt und die Rechte zum Beispiel an der türkischen Übersetzung vertreten möchte?
Hetzl: Ja, auf jeden Fall. Ich habe immer ein offenes Ohr und offene Augen für Kolleginnen und Kollegen, die Literatur aus dem Arabischen in andere Sprachen übersetzen. So ist aus meiner Ein-Personen-Agentur 10/11 ein Team von uns Dreien geworden. Aber jemanden zu finden, ist nicht einfach.
Sie oder er muss brillant sein, sei es als Übersetzerin, Lektorin oder Kritikerin. Sie oder er muss unseren Geschmack und unsere Einstellung teilen und auch den Enthusiasmus, die Initiative und den Glauben an die größere Vision von 10/11. Ich sollte Ihre Frage nutzen, um zu sagen, wie dankbar ich bin, dass Katherine und Alice Teil von 10/11 sind.
Würden Sie einer Übersetzerin raten, Literaturagentin zu werden und arabische Literatur zu vertreten?
Halls: Auf jeden Fall! Übersetzerinnen und Übersetzer machen bereits einen nicht unerheblichen Teil der Arbeit einer Agentur, sie sind also gut dafür qualifiziert. Es ist nur eine Frage des Einstiegs und der Einarbeitung.
Das Interview führte Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2023
Marcia Lynx Qualey ist Gründerin und Redakteurin von ArabLit.org, wo dieses Interview zuerst veröffentlicht wurde.