"Für arabische Literatur ist Algerien eine Wüste“

Für seinen historischen Kriminalroman "Das Ende der Wüste“ hat der algerische Autor Said Khatibi im Mai in Abu Dhabi den renommierten Sheikh Zayed Award in der Kategorie junge Autoren erhalten.
Für seinen historischen Kriminalroman "Das Ende der Wüste“ hat der algerische Autor Said Khatibi im Mai in Abu Dhabi den renommierten Sheikh Zayed Award in der Kategorie junge Autoren erhalten.

Für seinen historischen Kriminalroman "Das Ende der Wüste“ hat der algerische Autor Said Khatibi im Mai in Abu Dhabi den renommierten Sheikh Zayed Award in der Kategorie Junge Autoren erhalten. Claudia Mende hat für Qantara.de mit Khatibi gesprochen.

Von Claudia Mende

Herr Khatibi, Sie schreiben Ihre Romane auf Arabisch, andere algerische Autoren schreiben lieber auf Französisch, warum?

Said Khatibi: Manche Autoren vor allem der älteren Generation sehen für sich mehr Freiheit in der französischen Sprache, aber es geht auch um den Buchmarkt. Für arabische Literatur ist Algerien schlicht eine Wüste. Es gibt kaum Buchhandlungen, die arabische Literatur anbieten. Es wird immer noch mehr auf Französisch gelesen, wir müssen wirklich für Arabisch kämpfen.



Ich habe zwar französische Literatur an der Universität Algier und dann an der Sorbonne in Paris studiert und sollte danach eigentlich auf Französisch schreiben, ich habe mich aber für Arabisch entschieden. Leider tut der algerische Staat, etwa das Kulturministerium, rein gar nichts für die arabische Literatur.

Aber das französische Kulturinstitut und die französische Botschaft investieren eine Menge, um eine frankophone Gesellschaft zu schaffen. Für die arabische Sprache dagegen gibt es nichts Vergleichbares.

"Am Ende der Wüste“ ist mein vierter Roman, ich habe auch noch andere Bücher geschrieben und Übersetzungen gemacht, zum Beispiel von Kateb Yacine, aber ich fühle mich wie ein Soldat der arabischen Sprache. Wenn ich einen Roman beginne, weiß ich schon, wie schwierig es wird, aber ich kämpfe. Der Sheikh Zayed Award wird mir helfen, als Autor in Algerien und in der ganzen arabischen Welt sichtbarer zu werden.

Cover des Romans "Nihayat as-Sahra" (dt. Das Ende der Wüste) von Said Khatibi; Quelle: Verlag
Warum konnte das passieren? In Said Khatibis historischem Kriminalroman geht es um ein zentrales Ereignis in Algerien am 5. Oktober 1988. An dem Tag kam es zum ersten Volksaufstand nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1962. Die Menschen waren wütend, weil sie nichts zu essen hatten, keine Milch, keinen Zucker. Das war während der sozialistischen Phase in Algerien und Polizei und Armee schossen auf die Demonstranten, sie haben viele erschossen. "Als ich davon erfuhr, war das ein Schock für mich,“ sagt Khatibi. "Wie konnte so etwas 25 Jahre nach der Unabhängigkeit passieren? Unsere eigene Polizei hat Demonstranten einfach erschossen! Ich beschreibe aber nicht, was passiert ist – das weiß in Algerien jedes Kind – sondern mich interessiert die Frage, warum es passieren konnte.“

Sie haben einen historischen Kriminalroman geschrieben. Der Krimi als Genre ist in der arabischen Welt noch sehr jung. Woran glauben Sie liegt das?

Khatibi: Es ist mein erster Krimi, bei meinen anderen Romanen dreht es sich zwar auch um historische Themen aus der Zeit des algerischen Bürgerkriegs, aber es sind keine Krimis.



Für mich war die Zeit des Bürgerkriegs ein einschneidendes Kapitel. Ich verstehe mich als "Sohn des Krieges“, denn ich habe diese Zeit in Algerien mit durchlebt. Warum gibt es keine Krimis in der arabischen Welt?

Das frage ich mich auch, und auch meine Freunde fragen mich ständig, woran das liegt. Die einzige Antwort, die mir dazu einfällt, lautet: Der Krimi ist ein Synonym für Freiheit.

Für einen Krimi brauchen Sie als Autor die größtmögliche Freiheit und die haben wir nicht in der arabischen Welt. Selbst dort, wo es keine staatliche Zensur gibt, haben wir nach so vielen Jahren staatlicher Gängelung die Zensur verinnerlicht. Man soll weder über Religion noch über Politik schreiben, also kontrollieren wir uns.



Wir haben unseren Big Brother in uns selbst, damit wir keine Probleme mit unseren Regierungen und unseren Gesellschaften bekommen. Aber so kann man keinen Krimi schreiben.



Wenn ich nicht in Europa leben würde, hätte ich den Roman nicht schreiben können. So wusste ich, ich habe meine Freiheit, auch meine innere Freiheit, zu schreiben, was ich will.

Unser Problem ist nicht, dass wir keine guten Autoren hätten, es gibt es sehr gute arabische Schriftsteller, aber ihnen fehlt die Freiheit, die ein Autor für einen guten Roman braucht.

Niemand tut etwas für die arabische Sprache

Im Krimi geht es ja auch darum, dass ein Täter am Ende seine gerechte Strafe erhält. Glauben arabische Autoren nicht daran, dass am Ende die Gerechtigkeit siegt?

Khatibi: Das hängt wohl mehr von den Fähigkeiten eines Autors ab. Man muss sich einen Plan machen und auch sehr gründlich recherchieren. Ich habe für meinen Roman mindestens ein Jahr lang nur recherchiert und anschließend drei Jahre lang daran geschrieben. Das erfordert eine Menge Energie, man kann das nicht nebenher machen, aber zentral ist wie gesagt die innere Freiheit.

Hätte ich den Roman in Algerien geschrieben, würde ich zumindest meinen Job riskieren. Wenn man zum Beispiel als Journalist einen Artikel schreibt, der den Herrschenden nicht gefällt, dann sorgen sie dafür, dass man den Job verliert oder sogar ins Gefängnis kommt.



Ich kenne viele Autoren, die sagen, ich schreibe nicht, was ich wirklich denke, denn ich will meinen Job nicht riskieren. Ich gehöre nicht zu diesen Kreisen in Algerien und kann daher schreiben, was ich will. Dafür habe ich hart gekämpft.

Aber gibt es dennoch etwas spezifisch Algerisches an ihrem Roman?

Khatibi: Wir kämpfen für eine algerische Literatur in arabischer Sprache, aber bisher fehlt dafür jede Infrastruktur, es gibt keinerlei finanzielle Unterstützung für Arabisch schreibende Autoren, jeder muss sehen, wie er selbst zurechtkommt. Das größte Problem ist, dass die Leser fehlen, weil sie frankophon sind und der Staat nichts tut, um das Arabische zu fördern. Dabei gibt es ja das Potential, wir reden von einem Land mit 45 Millionen Einwohnern!

 

 

Hier ist die Situation in Algerien auch wesentlich schlechter als in Tunesien oder Marokko, wo seit einigen Jahren mehr für die arabische Literatur getan wird. In Algerien muss ich als Autor alles allein machen, meine eigenes Marketing, selber Lesungen und Termine zum Signieren von Bücher organisieren, niemand hilft mir.

Hauptsache gut geschrieben

Wie viele Exemplare eines Romans können Sie dann verkaufen?

Khatibi: Nach einem Jahr großer Anstrengungen kann ich vielleicht 1000 Exemplare verkaufen. Es gibt keinen Fernsehsender, der mich zu einem Interview oder einer Diskussion einlädt. In Algerien sind alle Medien in der Hand staatlicher Organe, niemand in diesen Medien ist an Literatur interessiert, geschweige denn an Literatur in arabischer Sprache.



Deshalb ist der Sheikh Zayed Award für mich so wichtig. Er wird dazu beitragen, dass in Algerien die Menschen realisieren, ja es gibt gute Literatur auf Arabisch und wir müssen sie lesen. Diese Erkenntnis kommt für viele fast wie ein Schock.

Der Sheikh Zayed Award wird in den Emiraten vergeben. Gibt es nicht auch bei diesem Preis Themen, die man nicht ansprechen kann?

Khatibi: Mein Roman berührt viele Tabus und ich habe den Preis trotzdem bekommen. Der Unterschied zwischen dem Sheikh Zayed Award und anderen Literaturpreisen in der Region ist, dass die Jury des Sheikh Zayed Award die Freiheit hat, nach rein literarischen Kriterien zu entscheiden.



Hier geht es nicht darum, ob man links oder rechts ist, es geht nur darum, ob jemand schreiben kann. Im Grunde geht es doch in jedem Roman nur darum, ob er gut geschrieben ist. Es nützt ja auch nichts, wenn man alle möglichen Tabus anspricht und das Buch literarisch nicht gelungen ist.

"Wir sind nach der Unabhängigkeit falsch abgebogen"

Warum geht es in Ihrem Roman?

Khatibi: Es geht um ein zentrales Ereignis in Algerien am 5. Oktober 1988. An dem Tag kam es zum ersten Volksaufstand nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1962. Die Menschen waren wütend, weil sie nichts zu essen hatten, keine Milch, keinen Zucker. Das war während der sozialistischen Phase in Algerien und Polizei und Armee schossen auf die Demonstranten, sie haben viele erschossen.

Als ich davon erfuhr, war das ein Schock für mich. Wie konnte so etwas 25 Jahre nach der Unabhängigkeit passieren? Unsere eigene Polizei hat Demonstranten einfach erschossen! Ich beschreibe aber nicht, was passiert ist – das weiß in Algerien jedes Kind – sondern mich interessiert die Frage, warum es passieren konnte.



Geschichtsbücher erklären das nicht, ich versuche in meinem Roman aber eine Erklärung, warum es zu diesem revolutionären Protest in den Straßen gekommen ist. Das ist für mich der Unterschied zwischen einem historischen Roman und einen Geschichtsbuch.

Warum kam es dazu?

Ich will jetzt nicht zu viel verraten, aber wir sind in Algerien gleich nach der Unabängigkeit falsch abgebogen. Es gab vieles, was wir lange nicht gesehen haben. Gleichzeitig sind die Proteste von 5. Oktober 1988 der Beginn des Islamismus in Algerien, der in den 1990er Jahren zu zehn Jahren Bürgerkrieg geführt hat. Begonnen hat alles in dem 1980er Jahren.

Ich hoffe, die Leser in Deutschland können das Buch bald in deutscher Übersetzung lesen. Ich sehe, wie Europa immer weiter nach rechts rückt und Rechtspopulisten immer mehr Einfluss bekommen. Ich hoffe, wir können dem mit Literatur und Kultur etwas entgegensetzen.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2023

Said Khatibi, Nihayat al Sahra (dt. Das Ende der Wüste), Hachette Antoine 2022

Said Khatibi, geb. 1984 in Bou Saada, Algerien, hat französische Literatur in Algier und Paris studiert, anschließend als Journalist und Übersetzer gearbeitet. Er lebt heute in Slowenien. Für den Roman "Das Ende der Wüste“ erhielt er 2023 den Sheikh Zayed Award in der Kategorie "Junge Autoren“. Die Jury lobte seine stilistische Originalität und den innovativen Beitrag zum Genre des historischen Kriminalromans in arabischer Sprache.