Tickende Zeitbombe
Zehntausende Menschen verloren am 6. Februar beim Erdbeben in der südtürkischen Provinz Hatay ihr Leben. Bagger reißen weiterhin zerstörte Gebäude ein, bewegen Berge von übriggebliebenem Schutt und wirbeln große Staubwolken auf.
Einige Kinder laufen durch die Trümmer, um einen Platz zum Fußballspielen zu finden. Möglicherweise atmen auch sie dabei Asbest ein. Das giftige Baumaterial hat inzwischen Pflanzen, Böden und Schutt in der wichtigen Agrarregion kontaminiert, was eine ernstzunehmende Gefahr für die Gesundheit der Menschen bedeutet.
Ein Expertenteam der Türkischen Kammer für Umweltingenieure sammelte in Hatay Staubproben und ließ sie im Auftrag der Deutschen Welle (DW) analysieren. Die Untersuchung ergab, dass in der Region Asbest vorhanden ist, obwohl offizielle Statements das Gegenteil behaupten.
Gesundheitsexperten sagten der DW, dass die Menschen, die in der Erdbebenregion leben, darunter Tausende von Kindern, einem erhöhten Risiko für asbestbedingte Lungen- und Kehlkopfkrebserkrankungen ausgesetzt seien. Eine weitere Gefahr besteht im Mesotheliom, einem besonders tödlichen und aggressiven Krebs.
"In den kommenden Jahren könnten wir mit dem Tod von Zehntausenden sehr jungen Menschen aufgrund von Mesotheliomfällen rechnen", sagt Özkan Kaan Karadag, Arzt und Experte für öffentliche Gesundheit und Arbeitsmedizin, nachdem er die ersten Laborergebnisse der DW-Untersuchung gesehen hat.
Erhebliche gesundheitliche Risiken
Asbest, früher als Wundermaterial mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten gefeiert, wurde von der Weltgesundheitsorganisation als "eindeutig krebserregend" eingestuft. Seit 1993 ist es in Deutschland weitgehend verboten, in der Türkei seit 2010.
Doch viele Gebäude sind älter und enthalten noch immer asbesthaltige Baumaterialien. Asbest wurde oft in Dächern, Seitenwänden und Isolierungen eingesetzt. Wenn das Material zerbricht, dann kann das Asbest in mikroskopische Mengen zerfallen, in die Luft gelangen und sich ausbreiten.
Das Erdbeben vom 6. Februar zerstörte rund 100.000 Gebäude in elf Städten, darunter auch Hatay. Mehr als 200.000 Gebäude wurden zudem schwer beschädigt. Die UN schätzt, dass die Beben zwischen 116 und 210 Millionen Tonnen Trümmer hinterließen. Das sind genug Trümmer, um eine Fläche zu bedecken, die fast doppelt so groß ist wie Manhattan.
Noch immer reißen Arbeiter beschädigte Gebäude ab und beseitigen Trümmer, oft ohne Masken oder Schutzausrüstung. Häufig verwenden sie keine Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Staub, wie etwa das Versprühen von Wasser.
Organisationen wie der Verband der Kammern Türkischer Ingenieure und Architekten sagen, dass ihre Warnungen vor den Gefahren für die öffentliche Gesundheit, die durch unregulierte Abrissarbeiten, Schuttbeseitigung und Müllentsorgung nach dem Erdbeben entstehen, ignoriert werden.
Als Reaktion auf diese Warnungen schrieb Mehmet Emin Birpinar, der damalige stellvertretende Minister für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel, im Juni in den sozialen Medien, dass sich kein Asbest in der Luft befände. "Unsere Bürger im Erdbebengebiet können beruhigt sein; wir gehen sehr sorgfältig mit dem Asbest um", sagte er.
Asbest in der Erdbebenregion
Die Ergebnisse der DW-Analyse mit 45 Proben aus sechs verschiedenen Stadtteilen in Hatay scheinen jedoch im Widerspruch zu dieser offiziellen Aussage zu stehen.
Sechzehn zufällig entnommene Proben enthielten Asbest, die Proben stammten aus dem Staub von Zeltdächern der Notunterkünfte von obdachlos gewordenen Bewohnern sowie von Blättern, Früchten, Erde und Schutt.
In Gaziantep, 200 Kilometer von Hatay entfernt, entnahm die DW eine letzte Staubprobe vom Dach des Mietwagens der DW-Reporter. Die Probe war positiv – enthielt also Asbest. Das Team hatte eine negative Kontrollprobe entnommen, bevor es Gaziantep nach Hatay verließ, nachdem es das Auto zwei Tage zuvor gewaschen hatte.
Experten erklärten gegenüber der DW, dies zeige, wie das Fasermaterial an Fahrzeugen haften und weite Strecken zurücklegen könne.
Es kann Jahrzehnte dauern, bis Krebserkrankungen nach Asbestexposition auftreten. Allerdings schadet der dichte Staub in der Region bereits jetzt der Gesundheit. Kinder sind Experten zufolge besonders gefährdet.
Die 15-Jährige Limar Yunusoglu und ihre Familie flohen aus Syrien in die Türkei, um dem Krieg zu entkommen. Nach dem Erdbeben zogen sie in Zelte in der Nähe einer Mülldeponie. Limars Bruder ist jetzt krank.
"Mein Bruder wurde durch den Staub krank. Wir bringen ihn ins Krankenhaus und sie geben ihm Sauerstoff. Aber dann kommen wir hierher zurück, wo ihm der Staub weh tut. Manchmal schläft er die ganze Woche", sagte sie.
An der Küste erzählt ein Handwerker der DW, dass auch er und seine Familie vom Staub krank würden. In den Ruinen neben seinem Laden liegt jede Menge Abfall, von ausgedienten Elektrogeräten bis hin zu Isoliermaterialien, von denen bekannt ist, dass sie Asbest enthalten.
"Wir alle haben unsere Nase und unseren Mund voller Staub. Unsere Häuser, unsere Zelte, die Hausfassaden, unsere Autos: Alles ist voller Staub. Deshalb sind unsere Kinder und wir, unsere Mütter und Väter, alle krank", sagt er und zeigt rote Flecken auf Armen und Bauch.
Der Experte für öffentliche Gesundheit, Karadag, sagt, es sei ohne fundierte Studien schwierig zu bestimmen, wie viele Menschen in der Region betroffen seien. "Offizielle Statements, die behaupten, dass die Menschen in der Region nicht betroffen seien, dienen nur dazu, das Problem zu vertuschen", sagte er.
Die Zivilgesellschaft schaltet sich ein
Im April reichte die Anwaltskammer von Hatay zusammen mit Umwelt- und Gesundheitsorganisationen eine Klage ein. Sie wollen die Abrissarbeiten in der Stadt stoppen, doch der Fall ist nach fünf Monaten immer noch nicht entschieden.
Ecevit Alkan ist einer der Anwälte. Er wendet sich gegen die unzulängliche Vorgehensweise bei der Abfallentsorgung. Auch er wurde durch den Staub krank.
Alkan half bei der Kartierung aller in der Stadt genutzten Schuttdeponien, da die Behörden die Informationen nicht veröffentlicht hätten, sagt er. Er zeigt der DW Standorte in der Nähe einer Schule, einer Containerstadt für Erdbebenopfer und eines Bewässerungskanals für die Landwirtschaft.
Hatay ist eine fruchtbare Region und landwirtschaftliche Produkte wie Petersilie und Mangold werden von hier aus in die gesamte Türkei transportiert. "Es ist also sehr riskant, diesen Ort als Schuttdeponie für Mensch und Umwelt zu nutzen", sagt Alkan.
Utku Firat, ein Umweltingenieur, der bei der Sammlung von Staubproben für die DW half, betont, die Gefahr hätte minimiert werden können, wenn man mit Asbest belastete Materialien vor dem Abriss aus Gebäuden entfernt hätte.
"Sie haben es nicht nur versäumt, sondern sie decken die Lastwagen, die den Schutt transportieren, noch nicht einmal mit Planen ab. Selbst das hätte sehr geholfen", sagt Firat über die Behörden und Abbruchunternehmen.
Auch wenn der bisher entstandene Schaden nicht rückgängig gemacht werden kann, würden einige Sicherheitsmaßnahmen zumindest manche Gefahren verringern.
"Es sollten Masken an die Menschen und die Arbeiter in der Region verteilt werden und sie sollten unbedingt ermutigt werden, diese auch zu verwenden", sagt Firat. "Wohneinheiten in Gebieten, die besonders stark von Staub betroffen sind, sollten identifiziert und an einen anderen Ort verlegt werden."
Die wichtigste Lösung besteht jedoch darin, das Problem überhaupt einzugestehen und das tödliche Material sicher zu entsorgen.
Serdar Vardar und Pelin Ünker
© Deutsche Welle 2023
Der Artikel wurde adaptiert aus dem Englischen von Gero Rueter.