Ein Jahr Geiselhaft in Silivri
Wer den Fall Deniz Yücel von Nahem verfolgt hat, könnte meinen, dass dazu bereits alles gesagt und erzählt sei. Nicht nur haben die deutschen Medien über viele Monate detailliert über die Haftbedingungen des Istanbuler "Welt"-Korrespondenten und die rechtlichen und politischen Verwicklungen des Falls berichtet, sondern auch seine Anwälte, Freunde, Kollegen und die beteiligten Politiker sind ausführlich zu Wort gekommen. Nicht zuletzt Yücel selbst hat sich aus dem Gefängnis und danach in Briefen, Artikeln und Interviews wiederholt geäußert.
Und dennoch ist sein soeben erschienenes Buch "Agentterrorist", in dem er seine einjährige Haftzeit in der Türkei verarbeitet hat, äußerst lesenswert. Der 46-Jährige erweist sich einmal mehr als guter Erzähler, der so reflektiert wie humorvoll und oft auch selbstironisch über seine Erfahrung schreibt. Obwohl er nach einem Jahr in Haft allen Grund zu Wut und Hass auf die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan hätte, ist sein Urteil scharf, aber differenziert.
Der Sohn türkischer Gastarbeiter zeigt sich nicht nur als Kenner der politischen Geschichte der Türkei, sondern auch als kluger, abwägender Analytiker. Gerade bei der PKK, die von deutschen Linken oft verharmlost und verklärt wird, ist seine Einschätzung so kritisch wie treffend. Schon in seinem Interview mit dem PKK-Kommandeur Cemil Bayik, das von der Staatsanwaltschaft unsinnigerweise als "Terrorpropaganda" gewertet wurde, schonte er die Gruppe nicht.
2017 – ein Jahr reich an Konflikten
Das Buch lässt noch mal ein turbulentes Jahr aufleben, das die deutsch-türkischen Beziehungen einer harten Probe aussetzte. Von dem Streit um türkische Wahlkampfauftritte in Deutschland und den Nazi-Vorwürfen des Präsidenten, über die abstrusen Terrorvorwürfe gegen 600 deutsche Unternehmen bis hin zum Aufruf Erdoğans an die türkischstämmigen Wähler in Deutschland, nicht für SPD, CDU oder Grüne zu stimmen, war 2017 reich an Konflikten.
Als größte Belastung erwies sich aber bald die Inhaftierung von Deniz Yücel. Der "Welt"-Korrespondent hatte sich nach seiner Ankunft in Istanbul im Frühjahr 2015 rasch unbeliebt gemacht.
Für viel Aufsehen sorgte sein Auftritt bei einer Pressekonferenz von Kanzlerin Angela Merkel mit dem damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu im Februar 2016 in Ankara, bei der Yücel eine Frage für einen Rundumschlag zur türkischen und deutschen Politik nutzte.
Als Deutsch-Türke war Yücel besonders exponiert, da ihm Kritik im Regierungslager schnell als Illoyalität ausgelegt wurde. Nach seinem Auftritt bei der Pressekonferenz war der Aufruhr so groß, dass die "Welt" es vorzog, ihren Korrespondenten vorläufig abzuziehen. Später, nach seiner Festnahme, wurde die Zeitung dafür kritisiert, ihn in der aufgeheizten Lage zurück in der Türkei gelassen zu haben, zumal er keine offizielle Akkreditierung besaß.
Richtig erklären tut Yücel nicht, warum er als linker "taz"-Journalist eigentlich zu einer Zeitung ging, die einige Jahre zuvor auf ihrer Titelseite zehn Gründe aufgezählt hatte, warum die Türkei nicht zu Europa gehöre, darunter die abstruse Behauptung, dass an ihr "das Erbe der Antike und die jüdisch-christliche Ethik" spurlos vorüber gegangen seien. Ebenso lässt sich fragen, warum ein so konservatives Blatt ausgerechnet einen Journalisten wie Yücel engagierte.
Der Fall Yücel als "Chefsache"
Die Antwort liegt wohl darin, dass er mutig war und unbequem. Als er im Herbst 2016 mit anderen Journalisten von der linksradikalen Gruppe RedHack Zugang zu privaten E-Mails von Erdoğans Schwiegersohn und Energieminister Berat Albyarak erhält, zögert er nicht, darüber zu berichten. Als zu Weihnachten 2016 mehrere türkische Journalisten wegen der RedHack-Enthüllungen zur Fahndung ausgeschrieben werden, ist auch sein Name darunter.
Da Yücel eine Festnahme fürchtet, sucht er noch am gleichen Tag mit Zustimmung des deutschen Generalkonsuls Zuflucht in der Sommerresidenz des Botschafters am Bosporus – pikanterweise direkt neben dem Istanbuler Amtssitz Erdoğans. Rasch erreicht der Fall das Kanzleramt, das sich bei der Regierung in Ankara um eine Lösung bemüht. Noch im Januar 2017 erfährt Erdoğan über einen türkischen Politiker von dem Fall. Yücel ist nun Chefsache.
Mitte Februar beschließt Yücel, sich der Justiz zu stellen. Doch anders als erhofft, ordnet der zuständige Staatsanwaltschaft aufgrund seiner Artikel seine Festnahme wegen "Terrorpropaganda" und "Volksverhetzung" an. Nach zwei Wochen in Polizeihaft kommt Yücel ins Istanbuler Hochsicherheitsgefängnis Silivri – in Einzelhaft. In einer Rede bezeichnet ihn Erdoğan kurz darauf als deutschen Agenten und PKK-Vertreter. Yücel wird zum Spielball der Politik.
Mit Witz und Hartnäckigkeit
Es ist bewundernswert, wie unbeugsam sich Yücel in den folgenden Monaten den immer neuen juristischen Zumutungen, verbalen Attacken und den Schlägen der Wärter stellte. Mit Witz und Hartnäckigkeit kämpfte er darum, seine Würde und ein Minimum an Kontrolle über sein Leben zu bewahren. Doch bisweilen artete sein Kampf aus, und er selbst gibt zu, dass er sich manchmal "divenhaft" und rücksichtslos gegenüber seinen Mitstreitern verhielt.
Nicht nur Yücels Überlegung, bei der Bundestagswahl in Kreuzberg anzutreten, um einen Abgeordnetenstatus zu erhalten, erscheint bizarr. Auch seine Idee, die Gefängnisleitung, die ermittelnden Staatsanwälte und Erdoğan wegen Freiheitsberaubung zu verklagen, war ziemlich überdreht. Nur mit Mühe konnten ihn seine Anwälte und seine Frau Dilek überzeugen, dass dies nicht nur ihrer aller Situation verschärfen würde, sondern auch aussichtslos wäre.
Völlig verzweifeln ließ seine Kollegen und die deutschen Diplomaten schließlich seine Weigerung, das Angebot zu seiner Freilassung anzunehmen, dass Altkanzler Gerhard Schröder und Außenminister Sigmar Gabriel im Februar 2018 erwirkt hatten. Statt die Bedingung einer sofortigen Ausreise zu akzeptieren, wollte er lieber in Haft bleiben. Erst als die "Welt" einwilligte, an der Stelle der Bundesregierung ein Flugzeug zu chartern, willigte er endlich ein.
Rückblickend stellt sich die Frage, ob es klug war, den Fall so früh auf höchster Ebene zu thematisieren. Wäre Yücel womöglich einer Inhaftierung entgangen, hätte er sich gleich der Polizei gestellt? Hätte ihn Erdoğan auch dann als Geisel genommen, wenn sich Berlin nicht so frühzeitig für ihn eingesetzt hätte? Und hätte der Fall schneller gelöst werden können, wenn er nach Yücels Festnahme nicht solche öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland erhalten hätte?
Ganz klären lassen sich diese Fragen wohl nicht mehr.
Ulrich von Schwerin
© Qantara.de 2019
Deniz Yücel: "Agentterrorist – Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie", Verlag Kiepenheuer & Witsch 2019, 400 Seiten, ISBN: 978-3-462-05278-7