Iraks Leuchtturm strahlt nicht mehr
Als sein grauer Reisepass mit der Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland bald abläuft, steht Bebak Dawdi stundenlang mit Geld in der Hand vor dem Reisebüro im kurdisch-irakischen Erbil und überlegt, ob er jetzt lieber noch nach Frankfurt zurückfliegen soll. Flüchtlinge, die aus Deutschland freiwillig zurück in ihre Heimatländer gehen, unterliegen einer fünfjährigen Einreisesperre, wenn ihre Papiere abgelaufen sind. Schließlich lässt er den Motor seines Wagens an und fährt nach Hause.
"Meine Zerrissenheit begann“, sagt der 35-jährige Kurde. Zusammen mit seinem Vater war Bebak Ende 2004, aus dem sachsen-anhaltinischen Stendhal, wo er aufgewachsen ist, in den Irak zurückgekehrt, in die kurdischen Autonomiegebiete. Saddam Hussein, der Grund für die Flucht des Vaters, war weg, die Region boomte. Wie Pilze wuchsen neue Stadtviertel aus dem Boden. Irak-Kurdistan verzeichnete damals die höchsten Direktinvestitionen der gesamten Region. Die politisch Verantwortlichen riefen alle Kurden in Europa auf, nach Kurdistan zurückzukommen und beim Aufbau zu helfen. Das Know-how, was sie sich in den westlichen Ländern angeeignet hatten, sei gefragt. Man versprach ihnen Starthilfen, Jobs, gute Rahmenbedingungen.
"Wir schaffen das“, waren die Rückkehrer wie Bebak überzeugt. Und Tausende kamen. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 2005 und 2010 bis zu 60.000 Kurden aus Europa zurückkehrten, die meisten aus Deutschland. Wie viele aus anderen Ländern wie Kanada und den USA kamen, ist nicht dokumentiert.
Die Kurdenmetropole Erbil wuchs ins Unermessliche. Ihre Einwohnerzahl verdoppelte sich binnen weniger Jahre. Der Jahrhunderte alte Basar wurde abgerissen, neue Arkaden gebaut, Wasserfontänen und Lichtshows installiert, die Straßenhändler aus der Innenstadt verbannt. Auch Suleimanija, Kurdistans zweitgrößte Stadt, und Dohuk erfuhren einen Immobilienboom sondergleichen: Hochhäuser, Shopping Malls, Hotels entstanden. Größer und höher musste alles sein. Neue Ölfelder wurden entdeckt und erschlossen.
Die Kurden wähnten sich in einem immer währenden Aufschwung. Dabei lebten sie in einem Wechselbad zwischen Tradition und Moderne. Anspruch und Wirklichkeit klafften immer weiter auseinander. Jetzt stehen die Baukräne still, die Fassaden bröckeln, Restaurants und Hotels müssen schließen, weil sie nicht genügend Gäste haben. "Wir haben es nicht geschafft“, sagt Bebak heute. Über 100 Kurden packen täglich die Koffer.
Seit vier Jahren hat sich der Trend wieder umgekehrt. Tausende Kurden verlassen Kurdistan Richtung Europa. Von einem Exodus kann man zwar noch nicht reden, aber wenn die Fluchtbewegung der Kurden anhält, kann man sehr wohl von einer Massenflucht sprechen. Auch wenn inzwischen über 4.000 Kurden mit der irakischen Fluggesellschaft Iraqi Airways auf Staatskosten wieder nach Erbil zurückgeflogen wurden, kann die Situation nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele, sehr viele Kurdistan für immer verlassen haben und weiterhin gehen wollen. Stimmen in Erbil und Dohuk besagen, dass täglich über 100 Menschen ihre Koffer packen und dem irakischen Kurdistan den Rücken kehren.
Von oben sieht Dohuk fast idyllisch aus. Auf Kurdisch heißt die Stadt "kleines Dorf“, doch das ist es schon lange nicht mehr. Eine halbe Million Menschen leben in dem Kessel, von Bergen umgeben. Dohuk liegt 585 Meter hoch, im Sommer ist es schwül heiß, im Winter ziemlich kühl. Wer wissen möchte, warum so viele Kurden die Region verlassen, sollte sich in Dohuk näher umschauen, heißt es. Hier wird das System Barzani deutlich. Seine Kurdisch-Demokratische Partei (KDP) hat hier ihre Hochburg.
R.F. sitzt in seinem Laden im Kessel von Dohuk, in dem es gewaltig brodelt. "Kurdistan ist die korrupteste Region in der ganzen Gegend“, hat der Geschäftsmann erfahren, der Businessmanagement in Erbil studierte und aus Dohuk stammt. Mit seinen erst 34 Jahren, dem langen Bart und einer teuren Uhr, die am linken Handgelenk locker baumelt, wirkt er eher wie ein alter abgeklärter Greis, der seinen Glauben an die Zukunft verloren hat. R.F.verkauft Feuerlöscher - eine Ironie des Schicksals?
Der Barzani-Clan lässt keine Konkurrenz zu
Als die Pandemie auch nach Dohuk kam, wollte er Gesichtsmasken verkaufen. Doch das durfte er nicht, weil die regierende Familie Barzani sie produziert und verkauft und keine Konkurrenz zulässt. Überhaupt dominiere der Clan alles, das ganze Leben, den Alltag. "Wenn du ein Geschäft abschließt, wandern mindestens 50 Prozent in deren Taschen“, weiß R.F. , "sonst machen sie dich kaputt.“
Früher sei er in der Partei der Barzanis gewesen, erzählt er, wollte etwas bewirken. Sogar Wahlkampf habe er für die KDP gemacht, sein Auto gelb in den Parteifarben lackiert und Wahlwerbung für einen ihrer Kandidaten verteilt. Heute distanziere er sich davon, weil er gesehen habe, wo das alles hinführt. Dohuk sei stets das Rückgrat der Partei gewesen, hier seien die Hundertprozentigen, diejenigen, die stramm zu Barzani und seinem Clan gehalten haben. Nach Jahren der Wirtschaftskrise gibt es aber immer mehr, die sich von ihnen abwenden, so wie Rebaz. "Wenn Kritik aus Dohuk kommt, werden sie in Erbil aggressiv“, weiß der Geschäftsmann. "Wer hier demonstriert, wird platt gemacht, wird bedroht.“
Irak-Kurdistan, die drei Provinzen, die weitgehende Selbstständigkeit von Bagdad erlangt haben, werden von zwei Familien dominiert. Das sind zum einen die Talabanis in der Stadt und Provinz Suleimanija und die Barzanis in Erbil und Dohuk. Die beiden Clans teilen alles untereinander auf. Doch während in Suleimanija, im Osten Kurdistans, inzwischen eine Opposition zur regierenden Talabani-Partei PUK (Patriotische Union Kurdistans) entstanden ist und auch Demonstranten ihrem Frust Luft machen, regieren die Barzanis in den anderen beiden Provinzen mit eiserner Faust und unterdrücken alles, was ihrer Machtausübung gefährlich werden könnte.
"Wie unter Saddam Hussein“, hört man nicht wenige in Kurdistan sagen. Dabei hat der Clan-Chef und langjährige Präsident der autonomen Kurdengebiete, Masoud Barzani, stets betont, dass er sich der Demokratie verpflichtet fühle. Regierungschefs und Staatsoberhäupter westlicher Staaten hörten dies nur allzu gerne und gaben sich in Erbil die Klinke in die Hand. Mittlerweile hat Masoud Barzani abgedankt, sein Sohn und der Neffe sind nun Ministerpräsident und Präsident von Kurdistan.
Doch besser ist nichts geworden, im Gegenteil. "Vorher hatten wir einen Barzani, jetzt haben wir zwei“, grinst Rebaz. Dohuk sei nach Basra im Süden die reichste Stadt im Irak. Geschäfte mit der Türkei, Schmuggel, Drogen, Zölle am Grenzübergang oben in Zakho: "Es gibt Leute, die haben hier Milliarden von Dollar verdient – und die halten die Autonomieregierung und das System am Leben.“
Nichts als Immobilien und Öl
2013 platzte die Immobilienblase in Kurdistan. Da die Gewinne bis dato ins Ausland transferiert und nicht im Land selbst investiert wurden, gab es keine Rücklagen. Der Ölpreis brach erstmalig ein. Außer Immobilien und Öl hat Kurdistan jedoch nichts weiter entwickelt. Hochtrabende Agrarentwicklungspläne landeten ebenso in den Schubladen der untätigen Behörden wie Industrieansiedlungen. Die kurdische Regionalregierung, allen voran der damalige Kurdenpräsident Masoud Barzani, bekam Krach mit Bagdad. Die Überweisungen aus der Hauptstadt – immerhin 17 Prozent des irakischen Haushalts – blieben aus und die Öleinnahmen halbierten sich. Der aufgeblasene öffentliche Sektor konnte nicht mehr bezahlt werden, in dem fast 70 Prozent der Kurden auf der Gehaltsliste stehen und der 80 Prozent des Haushalts schluckt.
Monatelang bekamen Lehrer, Universitätsprofessoren, Dozenten und Ärzte kein Geld. Ein Jahr später rollte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) über den Nordirak, zwar nicht in die Kurdengebiete, aber haarscharf daran vorbei. Millionen von Flüchtlingen fanden Unterschlupf im sicheren Hafen Kurdistan. Als der IS besiegt war, wähnte sich Barzani stark genug, um einen unabhängigen Kurdenstaat anzustreben und ließ eine Volksbefragung darüber abhalten, die mit großer Mehrheit für ein eigenständiges Kurdistan ausfiel.
Doch der Alleingang des Kurdenführers kam ihm teuer zu stehen. Denn nicht nur Bagdad war alarmiert, sondern auch die Nachbarn Türkei und Iran opponierten massiv. Und selbst Kurdistans engste Verbündete, die Vereinigten Staaten, distanzierten sich von diesem Ansinnen. In letzter Minute konnte ein Waffengang zwischen der irakischen Armee und den kurdischen Perschmerga verhindert werden. Dann kam Covid.
Korruption beschleunigt den wirtschaftlichen Niedergang
Die Pandemie beschleunigte die schon auf Talfahrt befindliche Wirtschaft weiter. Steigende Preise, riesige Einkommensunterschiede, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten, mangelnde Aussichten auf sozioökonomische Mobilität, Lohnausfall im öffentlichen Dienst und das über Monate, ja sogar Jahre.
Einem Bericht der UN-Organisation für Entwicklung (UNDP) zufolge sank das Durchschnittseinkommen eines Haushalts in der kurdischen Region um dramatische 31 Prozent in den letzten vier Jahren, während der Restirak lediglich 12 Prozent Rückgang verzeichnet. Neben Angehörigen im öffentlichen Dienst seien hiervon besonders Frauen, junge Menschen, Behinderte und Binnenflüchtlinge am stärksten betroffen.
Doch der kurdische Präsident Nizevan Barzani wurde in der Schweiz fotografiert, wie er seinem Sohn eine Rolex-Uhr kauft. Und das amerikanische Politmagazin „American Prospect“ enthüllte, dass Ministerpräsident Masrur Barzani kürzlich ein 18 Millionen Dollar teures Haus in Miami gekauft habe, das vierte Gebäude, das die Familie dort besitzt.
Das war dann anscheinend zu viel: Erstmals in der jüngeren Geschichte Kurdistans gingen nun Ende November auch die Studenten in Erbil und Dohuk auf die Straße, die sich bislang still verhalten hatten. Die Sicherheitskräfte griffen hart durch und feuerten scharfe Munition ab. Unmittelbar ging es um die Wiedereinführung eines bescheidenen monatlichen Stipendiums, das die kurdische Regionalregierung vor 2014 für Universitätsstudenten bereitgestellt hatte und das seitdem nicht mehr gezahlt wurde.
Bebak Dawdi hat es geschafft und ist nach 18 Jahren Kurdistan wieder zurück in Deutschland. Mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung studiert der Kurde jetzt im Masterstudiengang Internationale Beziehungen an der Universität Fulda. Ob er wieder nach Kurdistan zurückkehrt, hängt von der Perspektive ab, die sich für junge Leute dann bietet.
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